Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Mülheim an der Ruhr, 11. Februar 1910

Mülheim a/d Ruhr, d. 11.II.10.

Lieber Ernst!

Herzlichen Dank für Deinen ausführlichen Brief, in dem Du zugleich den Wunsch aussprichst, auch von hier etwas zu hören. In beiden letzten Wintern war ich jedesmal Monate lang krank, u. zwar so heftig, daß ich Neujahr 1908 und später 1. April 1909 vom Arzt aufgegeben war. Harnsäure mit ihren niederträchtigen Folgen, Muskelrheumatismus genügt, um Dir Dr. medicinae das Tableau mit einem Worte aufzurollen. Diesen Winter bin ich bis jetzt noch verschont geblieben; kann wieder schreiben, das Gehör und das Gedächtnis ist wieder gekommen u. ich verlange nur nach Sonnenschein u. besonders Sommerwärme um || mich in meinem Garten so wohl zu fühlen als wäre ich an der Riviera. Denn im Garten arbeite ich noch, d.h. was man im 79. Jahre arbeiten heißt. Sonst lese ich Sybels 7 bändiges Werk: Gründung des Deutschen Kaiserreichs, Prinz Kraft von Ingelfingen: aus meinem Leben etc., von Bölsche u. von Dir, Du einst blondgelockter holder Jüngling. Ja, das waren noch andere Zeiten auf der Hütte in der großen Ritterstraße. Und doch, heute ist es fast noch schöner. Damals wußten wir nicht, was aus uns werden würde. Heute wissen wir, viel ist aus uns geworden. Was haben wir alles erleben können u. wie dürfen wir in die Zukunft blicken! Besonders Du, welch arbeitsvolles und erfolgreiches Leben kannst Du überschauen, welche Fülle || von wissenschaftlichen Freuden, Siegen u. Kämpfen. Du hast in die Furchen der Zeit massenhaft gesäet, die Ernte wird kommen, wenn wir zu unseren Vätern versammelt sind.

Meine Frau war vor 2 Jahren in Nauheim, voriges Jahr in Orb am Rhön, wegen des Herzens, beide mal mit Erfolg. – Mein ältester, der Ernst, Pastor ist seit August in unsere Nähe gekommen, nach Styrum, ¾ Stunde von Mülheim, hat 2 Jungen: Quartaner u. Sextaner. Helene jetzt 32 Jahre alt, zieht also nächstens (April) nach Kiel u. hat einen tüchtigen Mann gefunden. Im Januar erhielt sie von Kobe in Japan eine Lehrerinnenstelle angeboten. Vor Jahresfrist wäre sie am Ende darauf eingegangen bei ihrer großen Reiselust. || Aber besser nach Kiel als nach Kobe –

Mally 31 Jahre alt, ist Musiklehrerin u. außerordentlich tätig u. unser aller Sonnenschein. Ludwig, 27 Jahre alt, ist Ingenieur u. jetzt in Buenos-Aires, leider sehr fern, aber glücklich. Seine Braut harrt darauf, daß er sie abholt. – Weißt Du was? wir wollen uns Mühe geben so alt zu werden, wie Dein lieber Vater und Deine unvergeßliche Mutter mit ihren schönen Augen u. ihrer olympischen Ruhe. – Onkel Bräsig in Fritz Reuters „Stromtid“ zu Karl Havermann, als sie beide in Ruhestand getreten sind: „Karl, dies ist der letzte Abschnitt unseres Lebens, der soll nun erst schön, nämlich das Beste vom Ganzen werden.“ In Deinem Briefe || oder vielmehr auf Deiner beigelegten Photographie glaube ich einen leisen Zug von Melancholie zu bemerken. Hoffentlich ist das nur Folge einer vorübergehenden Stimmung; denn Du hast wahrlich keine Ursache dazu. Mit Zuversicht kannst Du den Marschallstab der Naturwissenschaft jüngeren Kräften in die Hand geben. Deine Hoffnung allen Aberglauben oder wenigstens den dicksten aus der Welt zu schaffen geht natürlich nicht so schnell in Erfüllung, als Du vielleicht geglaubt hast, da geht es Dir wie uns. Bismarck mit dem Kulturkampf. a Solche Wirkungen brauchen lange Zeit. Aber was brauche ich Dir das Alles zu sagen? Die Zeit der Duldung muß kommen, u. braucht nicht in Gleichgültigkeit abzuwarten. || Für die Mittheilungen über die Deinigen danke ich Dir herzlichst. Hoffentlich sorgt Dein Sohn für einen Stammhalter. Der Name ist ja durch die Familie Deines Bruders Karl gesichert. Es freut mich sehr ihn damals in Potsdam kennen gelernt zu haben. Er war ein Muster von Liebenswürdigkeit. Aber für diesmal nun genug; Dies sollte der Geburtstagsbrief sein – u. hätte beinahe den Glückwunsch vergessen!b an der Schrift erkennst Du, daß meine rechte Hand noch nicht wieder so geschmeidig ist wie sonst. –

Mit herzlichen Grüßen von meiner Frau und von Helene, die Dich hoch verehren u. von mir verbleibe ich

Dein treuer Jugendfreund

Ludwig, ehemals Louis

Finsterbusch.

[Nachschrift von Helene Finsterbusch]

Sehr herzlichen Glückwunsch & Dank für Ihren freundlichen Gruss zu meiner Verlobung. Ihre Helene Finsterbusch.c

a gestr.: Sollte; b eingef. mit Markierung am unteren linken Seitenrand: Dies sollte … Glückwunsch vergessen!; c Nachschrift auf S. 4: Sehr herzlichen … Helene Finsterbusch.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
11.02.1910
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 2367
ID
2367