Hein, Helene

Helene Hein an Ernst Haeckel, Danzig, 22. Februar 1883

Danzig d. 22. Februar 1883.

Hochgeehrter Herr Professor!

Ich glaube im Sinne meines lieben, verstorbenen Reinold zu handeln, wenn ich es selbst übernehme – obschon mit noch so wundem Herzen – Ihnen Näheres über denselben mitzutheilen, ja ich kann wohl sagen, es ist mir Bedürfniß, Ihnen, verehrter Herr Professor, seinem Freunde gegenüber.

Zuvor aber lassen Sie mich Ihnen meinen u. meiner Kinder freundlichsten Dank aussprechen für Ihre so herzliche, warme Theilnahme für ihren tröstlichen Zuspruch, die unserem Herzen so wohlgethan haben!

Wie groß die allgemeine Theilnahme hier in Danzig war, das werden Sie, sehr geehrter Herr Professor, aus den Zeitungen lesen, die ich so frei bin, Ihnen zu zu schicken.

Er ist gleichsam auf Flügeln der Liebe || u. Hochachtung in Blumen gebettet hinübergetragen! - -

Die Section ergab, daß die kleinen Aterien, die zum Herzen führen, sich, vielleicht, sehr schnell verstopft, verknöchert hatten, u. die Blutcirkulation verhindert hatten; Sie, verehrter Herr Professor, werden das schon verstehen, wenn ich mich auch ungeschickt u. unmedicinisch ausdrücke – u. darum schnell verknöchert, weil Reinold nie über das Herz geklagt hatte, nur über Lungenkatarrh, der ihn bisweilen quälte, über den aber die ihn verschiedentlich untersuchenden Ärzte vollständig nicht nur beruhigt, sondern auch überzeugt haben von der Bedeutungslosigkeit desselben.

Die sonstige Körperbeschaffenheit, alle inneren Theile, Lungen u.s.w. sind durchaus normal befunden, u. standen die Ärzte wie vor einem Räthsel – ihn fast beneidend um seinen verhältnißmäßig schnellen Tod – wenn er nicht ihr Freund gewesen wäre – u. um sich selbst in tiefer Trauer – ob sie nicht auch schon unwissentlich u. unerforschlich – denselben Keim in sich trügen!

Wir waren jenen Dienstag d. 30. Jenner in einer || Gesellschaft bei Verwandten, mein lieber, lieber Reinold unsre Tochter Else u. ich u. mein Mann so recht herzlich vergnügt, es wurde musicirt, Elschen sang auch, u. er freute sich, wie immer darüber. Um ¼2 Uhr kamen wir nach Hause, wir 2 Treppen hoch, gleich in die Schlafzimmer, er noch wie gewöhnlich, erst eine Treppe hoch, in seine Sprechstube. Dort zog er seine Stiefel ab, um hier oben die beiden andern schlafenden Kinder nicht zu stören. Er blieb diesmal etwas länger dort – ich

glaubte, er schriebe seine Besuchzettel für den folgenden Tag.

Endlich nach etwa 20 Minuten kommt er stöhnend herauf, wirft sich auf Bett, u. stöhnt, ich habe solche Beklemmung – solch Druck – ich suchte ihn zu beruhigen, meinend es käme vom Husten – nein, sagte er, die Lungen sind frei, ich kann ja athmen, husten, „hier, hier“ – aufs Herz zeigend. Kinder (sie kamen aus den anstehenden Zimmern herbei) es geht mit mir zu Ende“ u. nun ermahnte er sie in der ergreifendsten Weise und sprach mit uns – Alles heraus stoßend, bald sitzend, bald liegend, mit den heftigsten Bewegungen sich hin u. her-werfend – „Das ist das Herz“, da hilft Nichts mehr.

Der herbeigeholte Arzt Dr. Lissaner, sein Freund, || wandte das Verschiedenste an – er sagte ihm irr Dich nicht, L. das ist das Herz, das Herz, ich fühl es ja, ich habe keinen Herzschlag mehr, der Puls ist weg – ich bin schon so schwach – mach mit mir was Du willst, es hilft Alles nicht mehr. – Ich war so glücklich – – Die Ade (die jüngste Tochter 7jährige Tochter) soll das nicht sehen und hören – – die arme Ade!“ –

Zuletzt spritzte Dr. L. ihm Morphium ein, nach Reinolds Angabe, er wollte es schwächer haben, 4 procentig sagte er, könne er nicht vertragen, beschrieb aufs Genaueste wo Alles in seinem Schreibtisch zu finden sei, – so klar – Alle Zusprache L., der ja gar Nichts ahnte, prallte bei ihm ab, – L. Du willst mich trösten – ich weiß – ich weiß aber – das Herz –

Während der Einspritzung lag er auf der rechten Seite – nach einer Minute röchelte er, ich hielt es für Schlaf, Dr. L. nickte mir Bestätigung zu – ich sah ihn an – die Adern traten ihm auf der Stirne hervor, der kalte Schweiß – so roth – es war wie heftiger Krampf – Dr. L. rief ihn laut – ich mußte ihm die erkaltenden Hände mit heißem Wasser bürsten – – es war vorbei – Siegellack, aufgetröpfelt – der noch hinzugeholte Arzt Dr. Semon kam nur noch zur Bestätigung des Todes. || Sprachlos vor namenlosen Schreck u. noch unfaßbarer Trauer standen wir um sein Bett! – 3 Uhr Morgens. –

Schon während er so jammerte u. sich so herum warf, alle Worte herausstoßend – es sagend, das Herz müsse in Bewegung bleiben – fragte ich, ob ich nicht meinen Schwager, seinen Bruder Albert, herüberrufen lassen solle – „ach nein“ – sagte er „nun weiß ich, was der leidet, laß ihn ja nicht holen.“

Albert hat seit einem Jahre ein Herzleiden, das meinen Reinold oft bedenklich machte! –

Ach, verehrter Herr Professor, was soll ich Ihnen noch schreiben, es ist Alles so traurig! Es kommen täglich die Stunden, in denen er in dem kleinen Familienkreise zu Hause bei uns war, – leider waren es ja nur wenige – seine große Praxis (in den letzten Tagen hatte er pro Tag 39 Besuche gemacht) 4 Sprechstunden volle Leute hier – die uns noch furchtbar schwer werden, u. die ganze, lange Zukunft! Ohne ihn!

Unser ältester, einziger Sohn, 17¾ Jahre alt, mußte || den Tag nach dem Begräbniß, Montag d. 5. Februar ins schriftliche Abiturienten-Examen gehen – – mit welchen Gefühlen! – Der liebe Gott hat ihm Kraft gegeben. Den 28. Februar findet das mündliche Abiturenten-Examen statt. – Er wird sich dem Baufach widmen.

Nach meines lieben verstorbenen Reinold Wunsch u. Wille wird er nach Zürich gehen, dort Polytechnicum u. Universität besuchen, letzteres für den Fall, daß er noch Lust für ein anderes Fach zeigen sollte; es scheint aber nicht so; er geht auf 1 Jahr, ich strebe danach, das durchsetzen zu können.

Es wird immer einsamer um mich her, – auch diese Trennung, wenn auch Gott sei Dank! andrer Art, wird mir sehr schwer; ich behalte nur noch Else, meine älteste, 20jährige Tochter u. treue Stütze – u. die jüngste, 7jährige Ada um mich. – Mein Walther wird sich das Vergnügen machen, auf seinen u. meinen Wunsch, meines Mannes lieben Freund, Sie, verehrter Herr Professor, zu besuchen – wenn Alles gut geht – u. hoffe ich, da Sie jetzt nicht auf Reisen sind, daß er Sie antreffen werde. Es ist möglich, daß dieses schon Ende März stattfinden wird. –

Erhalten Sie, hochgeehrter Herr Professor, Ihr Wohlwollen und Ihre Freundschaft in dem Gedanken an den Verstorbenen, mir u. meinen Kindern. Mit dieser Bitte u. freundlichster Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin schließe ich u. zeichne mich

hochachtungsvoll u. ergebenst

Helene Hein, geb. Lehmann.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
22.02.1883
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 23520
ID
23520