Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Wustrow, 22. Januar 1858

Mein theurer Freund!

Bereits hatte ich die Hoffnung aufgegeben, von Dir direct Nachricht zu erhalten und hatte mich mit dem Gedanken allmälig vertragen lernen, daß ich allerdings wenig für Dich passe, Du der rüstige jugendliche Adler im reinsten Äther der Wissenschaft, im Vollgenuß der Geistesspeise, im unaufhaltsamen Strome der fortschreitenden Thätigkeit – ich der langsame Maulwurf, a in der dumpfen Erde wühlend, nur unansehnliche bald wieder verfallene Erdhäufchen in die Höhe hebend. In welche Exstase mich daher b der Anblick Deiner – beiläufig unverbesserlich zweifingerigen – Handschrift auf dem Couvert versetzte, könnte Dir mein kleiner Ulrich sagen, dem ich grade Stunde gab. Dein Bild, das Du mir von Würzburg schicktest, und das ich auch in der letzten Zeit c so oft, freilich nur in Hoffnung auf die Zukunft, betrachtete, dieses Dein Bild herunterreißen und an meine Lippen drücken, war eins. Nun ich habe Dich wieder, und will Dich gewiß nicht wieder lassen, oder auch Du hast mich, und ich will schon sorgen, daß Du mich nicht ganz lässt. Das mag sonderbar genug || für einen Maulwurf klingen, indeß was kannst Du mich hindern, wenn d der Maulwurf in seinem dunkeln Gange sich zu den reinen Höhen des Äthers hinaufträumt? Ist rein unmöglich, höre ich den Physiologen poltern; nun gut, aber wenn ich behaupte, e ich glaube daß der Maulwurf solche excentrische Träume haben kann, so kann mir Herr Physiolog nicht beweisen, daß er sie nicht haben kann. Genug, ich beweise meine Behauptung einfach mit der Thatsache, daß ich sie habe. Das klingt beinahe, als ob der Maulwurf aus galligter Eifersucht über den Adler verrückt würde. I nu nein, das wäre unlogisch. Das Geheimniß steckt nur darin, daß wahrscheinlich auch auf Bergen, wie z. B. der Olymp auch Maulwürfe hausen, und die befinden sich dann ebenfalls in so hoher Region, als ein Adler. Wenn übrigens auf solchen Höhen Maulwürfe noch nicht sollten gefunden worden sein, worüber ich Dich um Auskunft bitte, so steht diese meine ganze Theorie auf sehr wackeligen Beinen, ich würde die Theorie von den Träumen aufgeben und mich nächster Tage auf die Socken machen, um meine erdige Arbeit auf irgend einer luftigen Gebirgshöhe || weiterfortzusetzen. Vorläufig sieht mein Brief noch aus wie ein verrückt gewordener Zeitungsartikel der Australischen Zeitung; indeß der Hesse pflegt zu sagen, „das war ganz unvernünftig f gescheut“. Ich gratulire Dir von Herzen zum Doctorhute, aber was mehr sagen will, zu Deinen reich gesegneten Studien und zu Deiner weitverzweigten geistigen Verwandtschaft, denn bei der Bekanntschaft bist Du nicht stehen geblieben. Indeß daß ihr Naturwissenschaftler so esotherisch seid, dafür könnte ich wünschen, der Staat g finge euch ein, und steckte euch in einen Fischkasten u. hinge euch in die Spree, so daß ihr froh wäret, andre vernünftige Menschen nur einmal durch ein Loch zu erblicken, damit ihr einigen Respect vor dem homo sapiens kriegtet, der so klug ist die homines insipientes im Fischkasten etwas abzukühlen. Freilich sollten die Psychologen zugleich Physiologenh sein, aber es schadete wirklich nichts, wenn der Physiologi auch ein Stückchen Philosophen im Leibe hätte, ich dächte etwa in den Ganglien, damit er wenigstens in der Nacht sich die auf den Kopf gestellte Welt eines Plato nebst Sippschaft bis auf Feuerbach herunter anguckte. || Ich vermuthe stark, daß Ovid der großartigste Physiolog gewesen ist, denn wer hat wohl zarter wie er die leisen Übergänge vom Menschen zum Thier, zur Pflanze, zum Stein dargestellt, als er in seinen Metamorphosen.

Gott weiß, Dein Gedanke von dem ins Gymnasium recipirten homo sapiens ist mir in den Magen gefahren, ehe ich ihn gehörig zermalmt habe, und leider bin ich kein wiederkäuendes Thier; da rumoret er nun, daß es zum Erbarmen ist. Ich komme zu keinem vernünftigen Satze und ich halte es so am gerathensten, zum Essen zu gehen, um den unsaubern Geist durch eine gehörige Portion verdaulicher Speisen förmlich zu erdrücken, resp. ersticken, ersäufen oder zu absorbiren, welches letztere mit der Theorie von der Unsterblichkeit der unsaubern Geister am besten sich vereinbaren lässt.

Pause von 1 Stunde 20 Minuten.

Mit einem soliden Beefsteak und einer halben Portion Preßkopf abgefunden – denn in Mecklenburg kann man sich durch nichts sicherer Credit verschaffen als durch umfangreiches Essen, zu wäre z. B. Baumgarten sicherlich noch an der Rostocker Universität, hätte er mehr gegessen und nicht durch seine hagere Cassius Physiognomie den || Geschmack der patriotischen Mecklenburger beleidigt.

Du hast Recht, durch Berührung Deiner religiösen Ansichten, oder vielmehr religiösen Nicht-ansichten, was nach Hegel ja eine reine Tautologie ist, mein Interesse zu erregen. Es hat mich frappirt, d. h. überrascht, aber keineswegs erschreckt, bei Dir tabula rasa zu finden. Die lebhafte energische Erfassung Deiner Wissenschaft macht es, ich sage nicht erklärlich, sondern natürlich. Einmal wankend gemacht ist es das beste, unaufhaltsam vorwärts einen Pfeiler nach dem andern umgeworfen, bis es nichts mehr umzustoßen giebt; es ist schon gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen; nämlich wenn Du sagst, du zweifeltest an allem, so ist das durchaus nicht wahr, Du hast die Basis der Thatsachen für die Erkenntniß und den sittlichen Ernst für den Willen und die ästhetische Bildung für das Gemüth. (Ob Du übrigens den Willen annimmst oder wie Jessen verwirfst, ist mir ganz einerlei, denn hier sind die physiologischen Psychologiker grade so spitzfindig, als andre übergelehrte Leute.) Lässt Du dieses noch stehen, so bist Du durchaus noch nicht der ureigentliche Skeptiker. Ich wünschte Dir Deine Studien führten Dich auch noch diese Stufen hinunter, alsdann ist es gar nicht anders möglich als daß Du wieder nach oben klimmst, nicht etwa wie ein Krebs, rückwärts (Ja da fällt mir ein, ehe ichs vergesse, schwimmen die Krebse wirklich rückwärts? schlafen die Fische? und kannst Du mir eine größere Naturgeschichte nennen, worin man bequem nachschlagen kann, wie in einer gebildeten und land- || wirthschaftlichen Familie es öfters gewünscht wird. Hier soll eine angeschafft werden. Die Oken‘sche ist dafür unbequem (d. h. für uns Laien), sondern in eigner Weise. Du hast das Leben bis jetzt nur von seiner Lichtseite gesehen und wohl Dir! Noch hat das Geschick Dich nur angelächelt, möge es das immer – noch hast Du die vollste Befriedigung in der Wissenschaft gefunden, Heil Dir, wenn bis an Dein Ende, wie es Göthe ja ebenfalls wenn auch in andrer Weise darin gefunden hat u. vielleicht auch Humboldt, wiewohl ich zu meiner Schande gestehen muß von ihm total ununterrichtet zu sein. Wie ganz anders ich der Welt gegenüber denke und fühle, als Du, das geht daraus hervor, daß Du bei der Erkenntniß der elenden Kleinlichkeit und verächtlichen Niedrigkeit der meisten Menschenseelen den tiefsten Abscheu fühlst und von dannen fliehst, während mir das Herz blutet und mich angespornt, dem Übel auf den Grund zu kommen, um vielleicht einen kleinen j Beitrag zur sittlich-religiösen, frei-humanen Erziehung unseres Geschlechts beizutragen, k worüber allerdings nicht nur Hunderte, nein Tausende von Jahren vergehen werden. Das sociale Elend, l die sittliche Entartung, die bornirten Erkenntnißweisen der verschiedenen Classen beschäftigt mich fortwährend, aus diesen Krankheiten heraus || forsche ich nach jener endlichen Ausbildung, die das liebende Herz ahnt, in geweihten Augenblicken schwelgend empfindet, aber nur unter unsäglicher Mühe und fortwährenden Irrthümern zu erkennen, mit dem Verstande zu erfassen und durch Worte zu fixiren strebt.

Mit kurzen Worten: Du lebst in der Wissenschaft und selbst genießend wirst Du die Menschheit durch diese fördern, die einzelnen Menschen, soweit sie nicht in einer besondern Verbindung mit Dir stehen, sind Dir gleichgültig. Mir gilt die Wissenschaft wenig, weil sie in ihrer jetzigen Gestalt mir nicht genügt und ich die Kräfte sie zu fördern in mir vergebens suche, mir ist das praktische Leben alles, und die nächsten Aufgaben, und die Einwirkung auf die Einzelnen, und wenn ihrer noch so wenig, oder von noch so verschiedenem Stande u. Ansichten und Charakter, ist meine liebste wohlthuendste Beschäftigung.

Den Kirchenglauben, die Theologie in jeder Gestalt, habe ich von mir geworfen, ich bin auf dem tiefsten Boden des Zweifels gewesen, und in unbelauschten Augenblicken öffnet sich wohl noch manchmal klaffend der dunkle, tiefe, eisige Schlund, aber mein Herz ist nicht mehr zerrissen für meine Person, wiewohl leidend beim Anblick der Welt. Das wahre Christenthum hat bis jetzt höchstens in einzelnen Seelen, in hohen u. niedern Ständen, der Welt bekannt oder unbekannt seine Blüthe entfaltet, || seine Früchte gezeitigt. Theologie u. Christenthum sind himmelweit verschieden. Die zukünftige Phase des Christenthums wird mit der Wissenschaft Hand in Hand gehen, ohne selbst etwa der Wissenschaft zu bedürfen, denn Gebildete oder Ungebildete wird auf diesem Gebiete einerlei sein. Wie das geschehen soll? Die Gegenwart sieht allerdings trostlos aus, denn da ist durch die Union und durch die Philosophen, die m irrthümlicherweise vor der Theologie den Hut abnahmen, die verfluchte Mode aufgekommen, die Lehren beizubehalten nur in philosophischer Weise gefasst, sodaß eine wahrhaft babylonische Verwirrung in den Begriffen herrscht u. fast je 2 u. 2 sich nicht verstehen. Hier muß auf dem Wege der Theorie mit klaren simpeln Worten geschieden werden, was nur eine scheinbare Verbindung eingehen konnte und dazu sind praktische Philosophen durchaus unentbehrlich. Daneben müssen Philanthropen arbeiten öffentlich u. heimlich, das letztere nach dem Grundsatze: daß eine Wahrheit richtig sein kann, ohne daß sie durch Veröffentlichung heilsam sein muß. Doch das führt mich für diesmal zu weit, es bleibt doch alles dieses bei den ersten Anfängen, n Dir mein Inneres aufschließen, o ginge nur durch längern Umgang. Also still davon; nur das eine versichere ich, daß ich meine scheinbar schlecht angewendete Zeit in Meklenburg nicht bedauere; ich habe allerdings ein || merkwürdiges Geschick so ganz allein auf mich angewiesen zu sein, keinen Lehrer auf der Universität gefunden, dem ich mich zu Füßen hätte setzen können, keinen fördernden Umgang hier in Meclenburg, u. wie ich glaubte eine Persönlichkeit gefunden zu haben im Staatsrath Stever, da rafft ihn der Tod weg, noch ehe ich sein Haus bezogen habe. So habe ich Keinen, der mir einen bestimmten Weg gekennzeichnet hätte, der mich mit lodernder Begeisterung sich nachgezogen hätte. Der einzige alte Wieck hat mir eine innere Weihe gegeben, die noch jetzt mich zu Thränen der Dankbarkeit rührt, aber sie war p ganz allgemeiner Art.

Die allgemeinen Studien ziehen mich immer u. immerq an, Du weißt, ich schwärmte eine Zeitlang für Pädagogik; dieses Gebiet hat sich aber zusehends erweitert, und ich schwärme für – doch Unsinn, das ein andermal.

Nun zu meinen Zukunftsplänen. Ostern reise ich nach Hause u. will mir in Halle die Arbeiten geben lassen, und zwar in den modernen Sprachen, also wende ich mich der Realschule zu, welche mir wenig genug zusagt, indeß hier ist trotz des Hin- und Hergeredes eine Zukunft da, für die sich arbeiten lässt, u. an einem Ende muß man doch anpacken, wenn man überhaupt dem Ganzen seine Thätigkeit zuwenden will. Meine äußere Stellung ist mir einerlei, das Amt macht nicht den Mann, das ist eine alte, aber nicht beherzigte Wahrheit. Ich hatte die Absicht nach London auf ein Jahr zu gehen, die falsche Zärtlichkeit meiner Mutter hat mir diesen Plan || vorläufig zu Wasser gemacht. Ich will auch das ertragen, man muß nicht erwarten, daß die Umstände u. Verhältnisse sich nach unsern Forderungen gestalten, sondern unter allen Verhältnissen, wenn sie nur nicht erdrückend sind, muß sich dennoch ein Ganzes erringen lassen, ebenso wie ein Baum auch nicht r Licht, Luft, Boden, Stellung so findet, wie er sie zu seiner möglichst vollkommenen Entwickelung fordern könnte, sondern nach dem Maße als ihm von diesen Bedingungen gegeben, entwickelt er sich, s kämpft mit den Hindernissen, und würde, wenn er Bewusstsein hätte, trotz der Mangelhaftigkeit seiner Ausbildung sich dennoch das Zeugniß des redlichen Ringens geben können. Ich meine nicht nach dem Umfange des Wirkungskreises, nicht nach den Erfolgen ist das Leben zu messen, sondern die Krone des Lebens ist ein freudiger Rückblick im Alter auf das Leben, t u. wenn es sich auch durch unbetretene, einsame Waldpfade zum Theil hingezogen hat.

Solltest Du einmal in religiöser Beziehung ein Bedürfniß nach Aufklärung fühlen, wiewohl ich es nicht vermuthe, u. deswegen auch mich nicht gehörig || explicirt habe, so u denke dann an den Rath Deines Freundes und nimm Parker‘s Schriften. Er ist Amerikaner, die Schriften sind ins Deutsche übersetzt. Diesen Sommer habe ich mit der Staatsräthin darin gelesen. Sie befriedigen nicht vollständig, wenn man unbestreitbare, beweisbare Positiva sucht, sie zeigen aber den Ausweg aus dem Labyrinth der v energischsten Zweifel und gewähren eine Fernsicht w in die reine Menschheitsreligion; der das durstige Herz labt.

Bunsens „Gott in der Geschichte“ hat mir nicht zugesagt, das niedere Volk ist gar nicht berücksichtigt. Das Ganze eine Abstraction ohne Wärme für das Herz.

Bitte grüße Deine lieben Eltern auf das verbindlichste von mir. Noch einmal meinen Dank für das Opfer, das Du Deiner Zeit durch den langen, langen Brief gebracht hast. Meine Correspondenz beschränkt sich außer den conventionellen auf zwei Personen, die ich beide erst auf der Universität kennen lernte, aber die ist auch um so reger und wahrhaft || fördernd. Wenn Du nicht der das Examen machtest, x oder vielmehr wenn Du nicht überhaupt Deine Thätigkeit so ausschließlich auf die Wissenschaft concentrirtest, so würde ich Dir einen Vorschlag zu einer Nebenthätigkeit machen, von der ich Dir schon gelegentlich einmal werde erzählen können.

Dein

Ludwig Finsterbusch.

Wustrow bei Neu-Buckow

den 22. Jan. 1858.

Wie heißt denn der bedeutende Mann in Würzburg. Ich kann bloß rathen. In Deiner Begeisterung für ihn hast Du mir seinen Namen gar nicht genannt.

Ich unterrichte die beiden Töchter des Hauses in der Religion ganz nach meinen Ansichten, was mich natürlich nicht wenig y und in der eignen Klarheit und Sicherheit fördert, dazu kommt noch die fortwährende Gelegenheit dazu in den Gesprächen der schwer geprüften Wittwe. Den 30. Januar vorigen Jahres erschoß sich der Staatsrath auf der Jagd durch Unvorsichtigkeit, diesen Sommer, den 21. Juli schlug der Blitz in das Viehhaus und der ganze Hof mit Ausnahme des Wohnhauses brannte ab. Letzte Sylvesternacht wachten wir am Bette des am Scharlach darniederlegenden einzigen Söhnchens, Ulrich; ein Knabe mit bedeutenden Anlagen. Lieber Ernst, wenn Du während Deines Examens Dich auf einige Tage erholtest u. mich hier besuchtest, für gut Quartier und freundlichste oder freudige Aufnahme wäre gesorgt; Hoffmann v. Fallersleben hat hier früher einen ganzen Sommer zugebracht. Wustrow ist die kleine Halbinsel z von Wismar rechts, dicht bei Poel, dies statt aller Schilderung der Schönheit meines Aufenthaltes.

a gestr.: der; b gestr.: Dein; c gestr.: st; d gestr.: ich m; e gestr.: der; f gestr.: s; g gestr.: steck; h gestr.: Phychiologen; eingefügt: Physiologen; i gestr.: Phychiolog; eingef.: Physiolog; j gestr.: Theil be; k gestr.: ein Werk,; l gestr.: und; m gestr.: fa; n gestr.: me; o gestr.: hi; p gestr.: zu; q eingef.: immer; gestr.: wieder; r gestr.: die; s gestr.: über; t gestr.: w; u gest.: rat; v gestr.: m; w gestr.: an; x gestr.. wenn; y gestr.: in; z gestr.: bei

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
22.01.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 2318
ID
2318