Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Halle, 12. Januar 1853

Halle, den 12. Jan. 1853.

Mein lieber Freund!

Wer Dich nicht persönlich kännte, u. Deinen Brief zufällig zu lesen bekäme, der würde wahrlich sich eine seltsame Vorstellung von Dir machen. Nicht als ob ich Deinen Angaben weniger Glauben schenkte. Nehme ich doch lieber Alles, was Du mir schreibst, a auch das Schlimmste, als wahr an, als daß ich nur den leisesten Zweifel an Deiner Aufrichtigkeit gegen Deinen alten Freund in meinem Herzen aufkeimen lassen sollte. Dein Brief ist aus dem Herzen, er ist offen geschrieben. Und trotzdem stimmt er mich, Deinen Herzensfreundb, nicht zum Mitleid u. Mitgefühl, wozu er jeden Fremden stimmen würde, wenn er nur einiges Zartgefühl besitzt für die Offenbarungen eines jugendlichen für die Wissenschaften schlagenden, für die Erfreuung der Eltern durch eigne Fortschritte u. Beförderungen ängstlich sorgenden Herzens. Wenn er läse, wie Du „an Dir selbst verzweifeln möchtest“, wie Du „Dich fast ganz aufgebest“, daß Du „Nichts seist, mit dem natürlich Nichts anzufangen“, daß Dich Deine „guten Eltern dabei am meisten dauern“, daß „Dir Dein Leben in jeder Beziehung verfehlt erscheine“, daß von Dir „körperlich u. geistig nur wenig zu hoffen sei“, u. um allem die Krone aufzusetzen, daß ich, „wenn ich einmal Zeit habe, an meinen unglücklichen Freund zu denken“ etc, ich sage, wenn das Jemand lesen sollte, würde der nicht das größte Mitleiden haben u. haben müssen? Und wäre das objectiv wahr, || wer könnte Dich alsdann genug bemitleiden! Aber zu Deinem Glück sind es nur subjective Ansichten von Dir, ja mehr noch, es sind Grillen, und die 2 Zeilen Deines Briefes: „ich, der durch seine Grillen nur sich selbst u. Andern das Leben verbittert“ ist der eigentliche Schlüssel des Briefes, ist das einzig Objectiv-Wahre in Deinem Briefe, und – in Deinem Unglück. Und zu Deinem Glück; denn subjective Ansichten lassen sich beseitigen.

Vor allem ist es die Sorge um Deine Zukunft, in die Du wegen Deiner mißlichen Stellung zur praktischen Medicin kommst; dazu scheinst Du zur theoretischen auch gerade nicht die größte Neigung zu haben. Nun kommt aber sogleich die Einbildung, Naturwissenschaften nicht ohne Mathematik studiren zu können, ja am Ende hast Du, wie Du Dich ausdrückst, „nicht einmal zu den Naturwissenschaften so rechtes Talent“. Darauf folgt dann noch die schlaue Conjectur, daß Du darum keinen Bekannten habest, weil sich mit solch‘ einem charakterlosen Menschen Niemand abgiebt etc.

Lieber alter Freund! Glaubst Du wirklich die praktische Medizin einmal nicht mit Glück handhaben zu können, so steht Dir ja die theoretische offen, wenn Du Lust u. Neigung hast, u. es fehlt Dir hier weiter nichts, als Selbstvertrauen. Aber woher denkst Du denn dasselbe zu erhalten, wenn Du es Dir nicht selbst schaffst? Und das kann man ohne Anmaßung. Nicht aber ohne Selbsttäuschung, wirst Du mir erwidern, u. was dann? Lieber Ernst! Du hast auf der Schule, trotzdem Du ziemlich jung warst, c regelmäßig das Klassenziel erreicht, (ich kenne Deine Abneigung gegen solche Aufzählungen, aber um jeden Schein von Schmeichelei zu meiden und auf die Angaben Gewicht legen zu können, gebe ich dieselben, wie Du siehst, in der ärmsten Ausstattung). || Du hast das Examen d Deinem eignen Wunsche u. den Erwartungen der Lehrer gemäß gemacht, hast nebenbei vielfache andere Studien betrieben, hast die meisten Disciplinen mit Leichtigkeit bearbeitet. Giebt Dir dieser Erfolg Deiner Arbeit gar keine Sicherheit für den Erfolg Deiner Lieblingsstudien? Freilich wenn Dir das nicht genügt, so mache es mit dem Gotte aus, welcher uns die Zukunft verbarg. Ich weiß nur den einen Weg: Hast Du wirkliche Neigung, so thue das Deinige, im Übrigen glaube u. hoffe!

Ziehen Dich aber die Naturwissenschaften, die Du ja ohnehin immer Dein Lieblingsstudium nennst, mehr an, so ergreife sie doch. Warum doch ist es nöthig, daß Du Mathematik mitstudirst? Erfordern die Naturwissenschaften das Studium der reinen Mathematik? Oder soll es Brodstudium sein? Jenes kann ich nicht beurtheilen, habe aber bis jetzt geglaubt, daß die angewandte Mathematik, die Bekanntschaft [mi]t ihren Resultaten also u. Anwendungen hinlänglich sei. Und diese Forderung kann Dich nicht im Mindesten beirren. Zielst Du aber auf das Studium der Mathematik als Brodstudium, so ist das eine Grille von Dir. Du darfst Dir doch wohl zutrauen, es in den Naturwissenschaften, die Dich so ungeheuer fesseln, vorzüglich wenn Du Dich lediglich auf sie u. wieder speciell auf einen Zweig legst, einmal academische Vorlesungen geben zu können. Und dann Du Glücklicher, wie beneidenswerth dann für mich. Oder, weil Grillen am leichtesten durch Grillen zu vertreiben sind, wenn Du nun dazu untauglich sein wirst, nun so hast Du Deine Schuldigkeit gethan, mit dem Geschick kannst u. wirst Du nicht hadern, aber dann steht Dir noch derselbe Weg offen, den Du Dir bloß d[ur]ch das Studium der Mathematik glaubst offen erhalten zu können. Denn giebt es nicht Lehrstellen ohne den Unterricht in der Mathematik? Ich sollte meinen || auf Gewerbe-, Real-Schulen u. reichen Gymnasien seien solche Stellen. Wenn Du Dich also fortwährend mit solchen folternden Gedanken herumträgst, so kann das nur erscheinen entweder als ein schlimmer Mangel an Selbstvertrauen oder als ein mindestens unnützes Zagen vor der etwaigen Möglichkeit, eine geringere Stelle einmal auszufüllen, als Du wünschst. Lieber alter Freund! Ich will nicht anklagen, aber Dich lieber, wenn es einmal sein muß, verletzen, als Dir etwa Palliativmittel reichen oder Dich durch nichtssagende, leere Schmeicheleien noch mehr mit der Welt zu entzweien. Schaffe Dir Selbstvertrauen, das heißt nicht sich selbst genügen, sondern gerade, trotzdem man sich nicht genügt, nicht den Muth zu verlieren u. zu zagen. Denn wie das Vertrauen überhaupt erst im Unglück sich ausbilden kann, so ist auch das Selbstvertrauen erst an der Stelle, wo Du das vermeintliche Unglück hast, Dir nicht zu genügen.

Nicht anders ist es, wenn Du die Schuld daran, daß Du keinen näheren Bekannten Dir hast verschaffen können, auf Dich selbst, und zwar auf den Mangel von innerm Werth u. Charakterlosigkeit schiebst. Aber das ist nun gerade der verkehrte Weg, sich einen Freund zu suchen. Wie hast Du bei solcher Grille das Vertrauen u. die Entschlossenheit, Dich jemand zu nähern? Als ob es nicht tausenderlei Ursachen gebe. Aber eine, um nur immer wieder das alte Thema der Gemüthsstimmung in neuer Variation, gält es auch bei den Haaren, herbeizuholen, und um die Logik Deines kränkelnden Herzens recht absichtlich mit einer neuen Stütze zu halten, mit einer neuen Thatsache belegen zu können, nimmst Du gerade diesen aus den 1000 Gründen. Überhaupt bei Aussuchung eines Freundes umsegle man die beiden Klippen, bei dem Mißlingen sich selbst in solcher Weise die Schuld beizumessen, oder zu wähnen, keinen, auch nicht || Einen finden zu können, mit dem man in sittlicher Beziehung ohne Nachtheil leben könne. Lieber Ernst! Ich kann Dir nicht genug anrathen, diese Grille fahren zu lassen u. Dich nach einem Freunde umzusehen, u. wenn es nicht in diesem Semester geht, sogleich im Anfang des nächsten, dort oder auf einer andern Universität; denn im Anfang eines Semesters geht es am allerleichtesten.

Es hat mich recht betrübend überrascht, daß Du über Dein Knie klagst, da es doch auf dem Wege der Besserung war. Du glaubst, ich sei besser daran. Indeß von dieser Ansicht kann Dich die Nachricht abbringen, daß ich gegenwärtig von Sonntag den 9. bis heute Mittwoch nicht habe ausgehen können u. wieder einmal eine von den Nachwehen meiner Krankheit durchzumachen habe. Heute, Mittwoch den 12. um 6 Uhr Abends erhielt ich Deinen Brief u. schrieb noch am selbigen Abend, weil Morgen in aller Frühe bereits Weber nach Merseburg geht u. den Brief an Weiß besorgt. Ich hoffe Ende dieser Woche, also noch ehe Du den Brief erhältst, diese kleine Katastrophe überwunden zu haben. Dir aber wünsche ich von Herzen recht baldige u. gründliche Besserung.

Wenn es nur einmal wahr wird, daß ich Dich wirklich umarmen und mit Dir sprechen kann. Die Osterferien sollen mir dann noch einmal so willkommen sein.

Ich habe keine Zeit weiter zu verlieren, da ich Weber jeden Augenblick erwarte, um den Brief mitzunehmen.

Dein Ludwig

a gestr.: als; b eingefügt: Deinen Herzensfreund; c gestr.: fortwährend; d gestr.: nach

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
12.01.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 2312
ID
2312