Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 30. Dezember 1899
Wien, 30. 12. 1899.
Mein hochverehrter Meister!
Im Laufe der letzten Wochen erst bin ich endlich dazugekommen, mir Ihr neuestes Werk, nach dem mir – wie so oft! Hände und Seele zuckten – ganz zu eigen zu machen. Wohl hatte ich schon da und dort „genascht“, und Sie selbst bei diesen flüchtigen Durchblicken auf’s Neue bewundern und verehren gelernt, Ihnen, gleichsam symbolisch, noch einmal all’ mein Denken hingegeben, das ja so Viel – um nicht zu sagen Alles – aus dem Quell Ihrer Weisheit || empfangen. Da und dort – auch das will ich nicht verhehlen – hat sich auch ein heimlicher Widerspruch in mir geregt, der, bevor ich das Werk in seinem ehernen Zusammenhang und seiner lapidaren Wucht kannte, sogar oft ziemlich laut wurde. Was wollen Sie! In den lichtesten und freiesten Seelen gibt’s doch noch immer einen Schlupfwinkel, wohin sich die Persönlichkeit vor gänzlicher Überwältigung flüchtet. Und aus diesem Winkel heraus hab’ ich Ihnen mannhaften Trotz geleistet, in dieser dunklen Ecke hab’ ich ein für allemal auch – mich gefunden! Wie geschah mir aber, als ich, nach gründlicher Aneignung Ihres Werkes entdeckte, dass gerade das, was mich darin als Inconsequenz anmuthete, das mir Verwandte sei –? Ich meine die, Ihnen selbst || vielleicht nicht ganz offene „zweite Seele“ in Ihrer Brust, das Bedürfnis das, was Sie als Wahrheit erkannt, zu vergöttlichen, auf dass es ein für allemal für die Menschheit gerettet sei. Der Monismus als – Cult! Ich muss sagen, Etwas in mir fror und glühte bei dem Gedanken. Zuerst war ich empört. War das nicht das Ende alles weiteren Forschens? Der Geburtstag eines neuen Fanatismus? Ich sah schon die Pfaffen der künftigen Jahrhunderte, und hörte das Geschrei ihrer Opfer. Und die Frage bleibt offen, ob, was man heute als heilige Wahrheit in die Hände einer kultbedürftigen Einfalt legt, von dieser nicht schon im nächsten Jahrhundert zum Fetischismus entweiht wird! Dann erschrak || ich plötzlich, denn … und nun können Sie triumphiren – mir fielen meine „Mysterien der Menschheit“ ein. Ich war also schon vor Ihnen sozusagen „abtrünnig“ geworden, und die verwandten Seiten unseres Wesens lagen plötzlich mit all’ ihrer dunklen Lieblichkeit vor mir. Hätte sich nicht meine Liebe für die von uns erkannte Wahrheit bereits in Fanatismus verwandelt, jener Gesang wäre nie geschrieben worden. Und deshalb will ich mich als erste Gläubige in das Taufbuch der unsichtbaren Kirche eintragen, die Sie in Ihren Träumen emporwachsen sehen. Ich begreif’ es so gut, dass ein Mann und Held wie Sie, am Abschlusse eines, von großen Siegen gekrönten Lebens, sein Werk auch gewahrt und bewahrt sehen möchte. Und deshalb wirkte || dieses, ihr „letztes“ Werk, thatsächlich wie ein heiliges Buch auf mich. Es ist das Letzte, was ein Säcularmensch zu sagen hatte – und er hat es gesagt. Aber, selbst wenn dieser, ihr letzter Wunsch in Erfüllung gingen [!] … aber – die Kommenden? Sie und ich und einige Anderen, wir haben nie eine Kirche gebraucht, um uns der Größe und Herrlichkeit der Natur als Eines an sich Göttlichen bewusst zu werden. Für die „Anderen“ aber, seh’n Sie, – wird die „Kirche“ immer die Hauptsache bleiben. Der Ort, wo man empfängt, sei’s Gnade oder Weisheit, ‒ und dieser Ort ist zuletzt noch immer jeder Wahrheit über den Kopf gewachsen.
Wie viel ist an der reinen und herrlichen Lehre Christi verfälscht und missdeutet worden, || um aus dem, was doch nur für Wenige bestimmt war, eine – Weltmacht zu gestalten! Nun ist die Macht da, aber wo ist das Christenthum? Und so würde auch die Vergöttlichung des Monismus zum Schluss eine Vermenschlichung desselben sein. Und da meine ich nichts Gutes damit! – Das war mein einziges Bedenken, und selbst da steht, wie ich Ihnen, mein verehrter Meister sagte, noch mein innerstes Fühlen auf Ihrer Seite. Das Ganze ist eigentlich, wenn man es recht besieht, ein tief tragischer Conflict.
Gejubelt hab’ ich über die lichte Siegfriedsart, mit der Sie Ihre Widersacher und alle Dunkelmänner zu Boden werfen. Und wenn man von der glänzenden || Summe der Errungenschaften und Erkenntnisse der Naturforschung im XIX. Jahrhundert die Posten wegsubtrahirt, die Ihren Namen tragen und für sich aufstellt, da sieht man erst so ganz, was Sie sind und der Menschheit waren. Nicht zuletzt der, die sich immer nennen wird
Ihre
in unwandelbarer Verehrung
ergebene
M. E. delle Grazie.