Paul von Rautenfeld an Ernst Haeckel, Sanshui, 14. August 1910
Sanshui d. 14. August 1910
(Via Hongkong & Canton).
Hochgeehrter Herr Professor.
Ihre liebenswürdige Karte, welche Sie mir in Beantwortung meines Briefes von 12. Dezember und meiner Geburtstagsgratulation sandten, hat mich erst recht spät aus Swatow hier erreicht und ich bitte daher um Entschuldigung sie nicht früher beantwortet zu haben.
Ich weile jetzt schon mehrere Monate in Sanshui am Westflusse, wo ich dem Seezollamte vorstehe und recht viel zu tun habe, da mir hier kein älterer Direktor zur Seite steht wie in Swatow.
Es hat mich ungemein erfreut von Ihnen zu hören, daß Sie Ihren 76ten Geburtstag || bei guter Gesundheit verbracht haben und ich hoffe, daß dieser Sommer für Sie und Ihre Frau Gemahlin auch einen angenehmen Verlauf genommen haben wird und Sie sich vielleicht wieder mit Pinsel und Palette in die Schweiz begeben haben werden.
Eben erhielt ich die sechste Auflage der Anthropogenie von meinem Buchhändler aus Hamburg zugesandt und habe mich sehr gefreut darüber, daß dieses Ihr schönes Werk so viel gelesen wird.
Meine Planktonstudien muß ich leider hier fast ganz auf sich beruhen lassen, da die See zu weit von Sanshui entfernt ist, um bequem erreicht zu werden. Ich sehne mich in || Bezug darauf oft nach Swatow und ganz besonders nach dem tierreichen, herrlichen Golf von Neapel zurück.
Dr Reinhardt Dohrn teilte mir vor zwei Monaten den Tod Dr Lo Bianco’s mit. Wie gerne hätte ich jenen so überaus liebenswürdigen und humorvollen Forscher, dessen Bekanntschaft ich Ihnen verdankte, während meines nächsten Urlaubs in Neapel wiederzusehen! Für die „Stazione Zoologica“ bedeutet sein allzufrühes Dahinscheiden einen fast unersetzbaren Verlust.
Obgleich ich hier ein viel einsameres Leben führe als in Swatow, so bietet der Perlfluß dafür mit seinen hübschen, grünen Bergen und Hügeln, welche oft direkt vom Fluß emporsteigen und || anmutige Schluchten bilden und, wo sie weniger steil abfallen, mit Tee Hanf, Tabak, Raffia und Fruchtbäumen bepflanzt sind, ein schönes Landschaftspanorama, das zu Ausflügen einlädt, wie ich sie in Swatow nicht machen konnte.
Ich erlaube mir diesem Briefe einige Photogramme von der hiesigen Gegend und eine, freilich nicht auf Genauigkeit Anspruch machende Karte des unteren Laufes des Perlflusses beizufügen, welche Sie vielleicht, hochgeehrter Herr Professor, interessieren werden.
Mit meiner besten Empfehlung an Ihre hochverehrte Frau Gemahlin verbleibe ich
Ihr ganz ergebener
P. v. Rautenfeld