Rade, Emil

Emil Rade an Ernst Haeckel, Göttingen, 6. Mai 1892

Göttingen den 6. Mai 1892.

Hochverehrter Herr Professor!

Nachdem ich soeben in Gemeinschaft mit meinem Schwiegersohn mit dem Durchstudiren Ihrer unvergleichlichen „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ (8. Aufl. 1889) vorläufig zu Ende gekommen bin, und im Hinblick auf eine Zeit, wo ich das Glück hatte, mit Ihnen in Briefwechsel zu stehen, gestatte ich mir, meine geringe Persönlichkeit wieder in Ihr Gedächtniß zurückzurufen, und zugleich Ihnen unser Beider unbegränzte Hochachtung zu Füßen zu legen. – Ich habe stets mit freudigem Stolze Ihren Lebensgang verfolgt und mit sozusagen überirdischer Genugthuung Ihre Werke gelesen und gelernt. Ich habe manchem jungen Zoologen in Münster die Neigung zu Ihrer allumfassenden Naturanschauung in’s Herz gepflanzt und werde dies auch hier thun, wo ich mit Studenten viel verkehre. Mein Schwiegersohn nämlich, Freiherr von dem Bussche-Haddenhausen, welcher anfangs nach kurzem juristischem Studium umgesattelt hatte und Artillerie-Offizier in Münster geworden war, hat dann auch diese Stellung aufgegeben und das Studium der Medizin hier begonnen. Bei sehr großen natürlichen Anlagen und einem gewaltigen Fleiße wird er sicher dereinst Hervorragendes leisten. Nun bin ich nach dem Tode meiner Frau mit der noch unverheiratheten Tochter hierher gezogen und wir Vier führen ein äußerst glückliches, durch rege Thätigkeit gewürztes Leben.

In Münster habe ich an der Seite des Professors Landois tüchtig geschafft; sowohl in Wissenschaft wie in Humor, und über unsere Fastnachtstücke, die alljährlich auf die Bühne des zoologischen Gartens gebracht werden, lacht das ganze Münsterland. ||

Die zoologische Sektion für Westfalen und Lippe hat mich unter dem 4. März dieses Jahres zu ihrem Ehren-Mitgliede ernannt „wegen der langjährigen und hervorragenden Verdienste auf dem Gebiete der heimatlichen Thierkunde“; und auch anderweit sind mir viele Beweise der Anerkennung meines Strebens beim Weggang von Münster zutheil geworden.

Und nun verzeihen Sie, hochverehrter Herr Professor, daß ich mich noch einmal an Ihre Person herangedrängt habe – es war ein unabweisbares Bedürfniß für mich, und dies wird voraussichtlich das letzte Mal sein, daß ich Ihre kostbare Zeit für mich in Anspruch genommen habe. Mein innigster Wunsch ist, daß Sie der Triumphe über Irrthum und Lüge noch recht viele feiern mögen, und daß Ihre großartige Lehre von der Einheit des Weltganzen immer mehr finstere Köpfe erleuchten und immer mehr schmachtende Herzen erfüllen und erfreuen müsse.

Rade

Rechnungs-Rath.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.05.1892
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 22075
ID
22075