Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Großreifling, 16. August 1899
Groß-Reifling, 16. August 1899.
Hochverehrter Meister!
Als wäre die Sonne über Salò untergegangen – so ist mir, seit ich weiß, dass wir Sie nicht dort sehen werden. Vergebens sag’ ich mir vor, dass Ihr Aufenthalt in Ajaccio nicht nur unbedingt notwendig sei, sondern auch mir wieder neue Schönheiten und Geheimnisse der von Ihnen durchforschten Tiefen entschleiern werde. || Ich hab’ mich eben schon zu sehr gefreut; das ist’s, und das will nun überwunden werden. Und Freund Müllner war nicht weniger betrübt darüber, als ich. – Doch freut es mich innig, Sie wenigstens jetzt in blauen Fernen und damit all’ der Misère entrückt zu wissen, die der leidige Alltagskrimskrams oft so erdrückend auf und um uns zusammenhäuft. Ich denk’ mir Sie leise lächelnd, wenn Sie Ihr pelagisches Netz wieder in die Tiefe werfen. Und daneben warten Pinsel und Farben, um all’ den geheimnisvollen Zauber festzuhalten. ||
Sie fragen, hochverehrter Meister, ob Sie mir Ihr neuestes Werk nach Italien senden lassen sollen? Ich bitte Sie darum. Es wird mir Ihre Gegenwart, wenn auch nicht ersetzen, so doch imaginiren; und Sie dürfen Sich überzeugt halten, dass ich es nicht nur mit Begeisterung lesen, sondern auch nach allen Seiten hin klar zu durchdringen u. beurtheilen versuchen werde. Hoffentlich lassen Sie auch aus Corsica etwas hören von sich; und in Rom bitt’ ich Sie, an mich zu denken. Wir bleiben || vom 6–29 September in Salò, wo wir im „Hôtel Salò“ wohnen werden. Dann geht’s heim nach Wien; u. für mich neuen Schicksalen entgegen. Denn im Oktober, längstens November ist die Première meines Dramas „Schlagende Wetter“ am „Deutschen Volkstheater“, der im März die des „Schatten“ am Hofburgtheater (mit Josef Kainz in der Hauptrolle) folgt! – Nehmen Sie alle Wünsche auf Ihre sonnigen Bahnen, und seien Sie von uns beiden in alter Verehrung begrüßt, insbesondere aber von
Ihrer
ergebenen
M. E. delle Grazie.