Ferdinand von Richthofen an Ernst Haeckel, Berlin, 20. November 1902
Berlin den 20. November 1902.
Kurfürstenstr. 117.
Lieber verehrter Freund.
Als ich mir vor einigen Tagen die Freiheit nahm Dir die Aufforderung zur Betheiligung an öffentlichen Vorträgen am Institut für Meereskunde übersenden zu lassen, gedachte ich Dir gleichzeitig zu schreiben. Leider verhinderte mich daran die Wiederkehr eines altgewohnten Augenleidens, und da dasselbe bis heute nicht gewichen ist, entschliesse ich mich dazu, die persönliche Schrift durch ein Diktat zu ersetzen.
Ich darf wohl sagen, dass wir stolz darauf sein würden, Deinen Namen an der Spitze unserer Vortragsliste zu sehen, und ich selbst würde Dir dafür zu herzlichem Dank verpflichtet sein. In der Biologie des Meeres steht in Deutschland Dein Name an Anciennetät und Gewicht obenan. Ein Vortrag von Dir würde dem Institut für Meereskunde zu hohem Glanz gereichen. Auch würde es mir besondere Freude machen, || Dir das Institut und Museum zu zeigen und Deinen Rat nach vielfacher Richtung zu erhalten. Ich glaube, es würde Deinen Beifall finden, dass ich in der Abteilung für das Leben des Meeres das biologische Princip zum Leitenden gemacht habe. Professor Ludwig Plate hat von dem durch Dich klassisch gewordenen el Tor ein Korallenriff so gut aufgestellt, als es technisch möglich ist. Nach und nach kommen andere biologische Gruppen an die Reihe. Durch öffentliche Vorträge soll das Interesse für diese wie für alle anderen Seiten der Meereskunde geweckt werden. Ich würde es mit ausserordentlicher Freude begrüssen, wenn Du freundlichst bereit sein solltest, vermittelst eines oder mehrerer Vorträge Deinen Namen dem in der Entwickelung begriffenen Institut zu verbinden.
Ich möchte diese Gelegenheit nicht vorüber gehen lassen ohne Dir herzlichen Dank zu sagen, nicht allein für die stetige Zusendung Deiner entzückenden Kunstformen der Natur, sondern auch für den Hochgenuss, welchen ich selbst, meine Frau und viele andere bei uns von diesem einzigartigem Werk || gehabt haben. Nur wer, wie Du, hohen künstlerischen Sinn mit intensiver Freude an der Natur und tiefstem wissenschaftlichen Verständniss für deren Schöpfungen verbindet, vermochte ein Werk zu schaffen, welches in solcher Weise den Formen-Reichtum und Kunstsinn der Natur zur Anschauung bringt.
In der Hoffnung auf eine zusagende Antwort verbleibe ich mit herzlichsten Grüssen, denen meine Frau sich anschliesst, in aufrichtiger Verehrung
Dein treu ergebener
F v Richthofen