Hetzer, Wilhelm

Wilhelm Hetzer an Ernst Haeckel, Halle, 22. November7. Dezember 1853

Halle, am 22.11.53.

Mein alter Schulcamerad!

Nur mit Zittern und Zagen, mit schuldbeladenem Herzen und reuigem Gewissen wage ich es, mich wieder vor Deinem Angesicht zu zeigen. Ich habe höchstwahrscheinlich Deinen Zorn im höchsten Grade auf mich geladen, und es geschieht mir dann vollkommen Recht, denn mein Phlegma ist gar zu groß. Der einzige Grund, der mir einigermaßen zur Entschuldigung dienen kann, ist der, daß es mir meist an Stoff zum Schreiben mangelte. Mich armen Kerl passirt ja gar nichts, was Dich nur einigermaßen interessiren könnte; Reisen pp. zu machen hat mir der schlechte Stand meiner Finanzen noch nicht erlaubt und was die studia und die sonstigen Privat-Vergnügen der hallischen Studenten anbetrifft, nun, so weißt Du ja dieß alles von dem Weber, meinem Stubennachbar, der mein treuer Begleiter ist. Nun könntest Du mir aber einwenden, warum ich Dir im vorigen Semester nichts aus dem Laboratorium geschrieben habe? Dem entgegne ich aber, daß ich dieß wirklich gethan habe, ich habe damals allerdings einen Brief, recht sehre lang, mit vielen gelehrten Dingen, an Dich geschrieben, doch ist der liegen geblieben, da ich bei der Absendung des Pakets an Dich nicht hier war. So habe ich ihn denn heute morgen, weil er durchaus nicht mehr zeitgemäß war, mit O feierlichst verbunden, und schicke Dir nur einige Rester als Beweiß für die Wahrheit meiner Aussage.

Du wirst wohl schon aus Webers Briefe erfahren haben, daß wir zwei beide am hiesigen, königlichen Universitäts-Laboratorium, unter Leitung von Professor Heintz und unter der speciellen Aufsicht des Herrn Baer (ursus spelaeus mihi) arbeiten, ich freilich schon ein im zweiten Semester. Da geht es nun flottweg, nicht wie bei Euch von 11‒1 || sondern täglich von 8‒12, ja nach Umständen sogar wohl bis 3 oder 4. Von qualitativen Analysen will ich schweigen, das wirst Du wohl schon durchaus kennen gelernt haben. Darum nichts von der Langweiligkeit des H S Durchleitens, nichts von schwarzen Fingern bei der Fällung mit NH4S, nichts von zerdöpperten Schalen, von Reagenzgläsern, denen der Boden fehlt pp. alles das weißt Du gewiß selbst aus Erfahrung. ‒ Jedoch habe ich auch schon quantitative Analysen gemacht, und von so einem Dinge ließe sich schon etwas mehr schreiben. Bereits im vorigen Semester habe ich damit angefangen; natürlich konnte ich auch a bloß mit Mischungen verschiedener Salze, deren Menge aber genau abgewogen war, anfangen. Da lernte ich nun erst die verschiedenen Handgriffe, die Fällungs- und Reagenz-Methode kennen, bis ich endlich b in den letzten 4 Wochen des vorigen Sommers auch eine größere anfangen konnte, die freilich einen ganz uninteressanten Gegenstand, eine Rohschlacke, zum Gegenstand hatte. In diesem Semester habe ich nun auch eine quantitative Analyse angefangen, und denke bis Weihnachten damit fertig zu werden. Sie betrifft ein Mineral, den Margarit oder auf gut Deutsch Perlglimmer, der ziemlich selten ist, und Dir wohl ebenso unbekannt sein wird, wie mir bis vor wenigen Wochen. Eben deßhalb, weil er nicht gar häufig ist, existiren auch noch nicht viele Untersuchungen von ihm, und ich bin nicht wenig neugierig, wie meine Resultate mit den früheren übereinstimmen. Du kannst Dir wohl denken, daß ich mit nicht geringer Furcht an diese quantitative Untersuchung heranging, ich hielt sie, wie wahrscheinlich auch Du, für einen Ausbund von Schwierigkeiten pp. Doch habe ich mich, und so wird es wohl auch Dir gehen, etwas getäuscht. Der Gang der Untersuchung ist im Ganzen derselbe wie bei c qualitativen, nur sind in einzelnen Fällen die Scheidungsmethoden etwas genauer. Das Einzige sind gewisse Hand- und Kunstgriffe, die einem die Sache sehr erleichtern. „Mit dem Wissen und Wollen muß das Können sich vereinigen“ sagt Fresenius und man muß ihm vollkommen recht geben. Ja man kann sagen, daß die ganze || quantitative Analyse eigentlich nur aus geschickten Manipulationen besteht, hat man erst diese inne, so kann man durch einiges Nachdenken, wenigstens in den meisten Fällen, sich den ganzen Gang der Trennung selbst ausdenken. In einzelnen Partien ist die Arbeit im höchsten Grad langweilig und zeittödend, da ist des Auswaschens von Niederschlägen, des Ausspülens von Gläsern, Schalen pp. kein Ende. Als Beispiel möge Dir dienen, daß ich, laut meiner meines chemischen Tagebuchs; zum Auswaschen eines Niederschlags, der aus Fe2O3, Al2O3, und CaO bestand, volle 8, sage acht Tage gebraucht habe. – Und das muß alles mit einer so peinlichen Sorgfalt geschehen, daß man sich zuletzt kaum Athem zu holen getraut, aus Furcht, daß ein paar Atome Staub in die Gefäße fallen; und hat man sich endlich geplagt und geplagt, so stößt einem vielleicht ein ungeschickter Nachbar die ganze Geschichte über den Haufen (ich spreche hier aus Erfahrung) und d man hat das Vergnügen, noch einmal von vorn anzufangen. Das sind die Schattenseiten von quantitativen Analysen, doch gewähren sie einem auch manches Vergnügen; da geht es mit einer solchen Reinlichkeit und Präcision, ja Feierlichkeit zu, daß man glaubt man ist in der Kirche, und wenn endlich die Gewichte recht genau stimmen, dann fühlt man sich durch die Freude darüber, mit der sich wirklich nichts vergleichen läßt, mehr als hinreichend entschädigt für alle ausgestandenen Trübsale. – Um nur die Zeit nicht ganz mit Keulen todt zu schlagen, macht man neben einer quantitativen auch noch qualitative Arbeiten, so habe ich es wenigstens im vorigen Semester gehalten. In diesem Semester bin ich noch nicht viel dazu gekommen, indem ich bis jetzt nur Präparate, meist für die Präparaten-Sammlung des Professor Heintz gemacht habe. Die Darstellung von Präparaten ist für diese active Person allerdings sehr interessant, interessanter und lehrreicher vielleicht als viele qualitative Untersuchungen, doch passen sie nicht zum Erzählen für einen Dritten. Es würde Dir wenig Spaß machen, wenn Du mein, schon erwähntes Journal, dase ich mit großer Sorgfalt führe, lesen müßtest; zum Beweiße ein paar Proben:

14.11. Flußsäure dargestellt: bleinitrirte Platinvorlage auf sehr wenig HO. auf 1 Gramm FlCa 2,5 Gramm SO3. Vorsicht wegen die [!] Dämpfe! Feuer schwach, sonst schmilzt die Retorte! 15.11. Trennung von Cu, Ni und Co, Fällung des Cu durch HO, || der Niederschlag auf Ni und Co zu untersuchen. Genaueste Reagenz mit letztrer ist salpetrigsaurer Kali, noch bei 1/6000 gelber Niederschlag. Darstellung von ClCa aus Rückständen, Filtrierung, Abdampfen pp. pp. Aufschließen des Wolframs durch NO5, die WoO3 bleibt als gelbes Pulver zurück. – Auflösen von Platin in Königswasser! Das darin unlösliche Pulver hielt Heintz für Gold! Dummes Zeug das, es war der reine Dreck pp –

Du wirst wohl schon hiervon genug haben und nicht nach mehr verlangen.

Ich will aber aus Rücksicht auf Dich geschäftigen Mann für heute dieß Capitel sowie überhaupt meinen Brief schließen. f Ich bitte Dich also recht herzlich um Verzeihung wegen meines langen Stillschweigens und bitte um eine, wenn auch kleine Antwort. Denke oft an Deinen alten Schul- und auch sonstigen

Freund

W. Hetzer stud. math.

Ein andermal auf Verlangen noch mehr.g

P. S.

7. 12.

Ich habe noch eine kleine Geschichte hinzuzufügen, die Dir, wie auch schon den kleinen Schuster, Weber und mir, die Haare zu Berges stehen machen wird. Ich befand mich also neulich in einer außerordentlich beklemmten Lage. Ich hatte schon längst verlernt, wie ein preußischer Kuppedenar aussieht, und litt in Folge davon an allem, selbst den nöthigsten Lebensbedürfnissen großen Mangel. Da kriegte ich denn auch so einen kleinenh Anfall des beliebten miseria felina. Ich dachte daran, mit was für großen Hoffnungen ich angefangen hatte zu studiren, wie ich i dieselben allmählig immer mehr hatte herabspannen müssen, die schlechten Aussichten für die Zukunft j und ähnliche Gedanken brachten mich in eine große Verzweiflung. In dieser Desparation kommt mir dann ein Gedanke, dem die Verrücktheit an der Stirn abzulesen ist. Ich hatte nämlich schon lange Zeit gespart, um mir den Kosmos zu kaufen; oft schon hatte ich eine kleine Summe dazu gehabt, doch war sie immer wieder durch andre Ausgaben aufgezehrt worden, so namentlich auch in der letzten Zeit. Da denke ich denn, wie wäre es, wenn du an einmal selber an Humboldt schriebst, ihm deine trostlose Lage mittheiltest, und ihn schließlich um ein k Buch als Gegenmittel gegen solche Anfälle bätest? Ich suchte diese verrückte Idee l zu verbannen, doch sie kehrte immer und immer wieder, bis ich mich eben endlich hinsetze m einen Brief an A. v. H. schreibe, adressire, frankire etc. Nun hatte ich alles wieder vergessen, ich hatte auch nie n nur mit einer Sylbe daran gedacht, daß mein Brief an A. v. H. kommen o oder noch besser, daß er gar p irgend eine Wirkung haben könnte. Da kommt mit einemmal ein großes Paket vom Oberhofbuchhändler Herrn Duncker, und die Packung??? – – Du räthst wohl schon: ... ein ganz prächtiges Exemplar vom Kosmos!! nebst einigen sehr höflichen Zeilen! Denke Dir mein Entsetzen, ich war nahe daran, überzuschnappen, und q überlasse Dir selbst, Dir mein Erstaunen pp. auszumalen. Na ich habe das Ding genommen, mich brieflich entschuldigt resp. bedankt, und lese nun, so oft mir der Kopf anfängt, von mathematischen Formeln zu schwindeln, ein Paar Seiten darin, gewiß das beste Gegengift. – ‒ ‒

Sollte r der letzte Theil dieser Nachschrift ein bischen ungeordnet und unsinnig sein, so mußt Du bedenken, daß „kein Dichter“ eigentlich schreiben soll mit einer Hand, die vom Fieber der Leidenschaft zittert“ viel weniger ich armer Mensch, dem die Gedanken immer davon laufen, so oft er an jene Geschichte denkt. Nochmals adjö es wird die höchste Zeit.

der Obige

a gestr.: erst; b gestr.: hier; c gestr.: quanitat; d gestr.: hat; e gestr.: daß; eingef.: das; f gestr.: Nur; g Text weiter am linken Rand von S. 4: Ein andermal … noch mehr.; h gestr.: Einfall; i gestr.: mich all; j gestr.: braucht; k gestr.: Exemplar; l gestr.: immer wieder; m gestr.: und; n gest.: auch; o gestr.: könnte; p gestr.: von; q gestr.: unter unterlasse; r gestr.: nun

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
07.12.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 21559
ID
21559