Grazie, Marie Eugenie delle

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 5. Januar 1896

Wien, 5. Jänner, 1895. [!]a

Hochverehrter Herr Professor!

Haben Ihnen meine „Gedichte“, wie Sie zu schreiben so liebenswürdig sind, wirklich eine aufrichtige Freude bereitet, so haben sie den Zweck, den ich bei meiner Sendung im Auge hatte, vollauf erfüllt. Es braucht von mir gewiss nicht wiederholt zu werden, welch’ hohen Wert ich auf jede Zeile von Ihnen lege, und wie schmerzlich ich deshalb den Unfall, der Sie heuer betroffen mitempfand. Ihre || Verstimmung über gewisse Strömungen in der Wissenschaft der Gegenwart begreif’ ich vollkommen. Doch aber thun Sie der Mitwelt und Sich selbst ein schweres Unrecht an, wenn Sie von einem Mißverhältnis zwischen dem, von Ihnen Erstrebten und Erreichten sprechen. Nicht Ihre Schüler und deren Abfall, die Ideen, mit denen Sie die Wissenschaft zu neuem Leben befruchtet, machen Ihr Lebenswerk aus, und die Zeit wird Ihnen noch einmal so gerecht werden, wie jedem Großen, dessen Namen || auf ihre Vergänglichkeit den Glanz des Genius zurückgestrahlt. Ich weiß, dass ich für Sie nichts bedeute, als einen Bewunderer mehr; doch aber möcht’ ich Sie bitten, ähnlichen Stimmungen nicht zu beständig nachzuhängen. Sie haben nicht nur um Jahrmillionen zurückgeschaut, sondern auch um Jahrhunderte voraus; das thut Niemand ungestraft, und daran leiden Sie jetzt, denn seine Zeit vergibt das Niemandem. Dieses außerhalb der Zeit stehen, macht aber eben Ihren Ruhm und Ihre Kraft aus, und wenn Sie mit freiem || Sinn und Gemüt Ihr Lebenswerk überblicken, dann denk’ ich muss Ihnen flügelleicht und adlerstolz zu Muthe sein. Die Bewunderung der Besten Ihrer Zeit gehört Ihnen; was thut’s, dass diese keine „Collegen“ und „Schüler“ sind? Der unendliche Ocean des Lebens, den Sie so tapfer und mit so hellem Auge befahren, rauscht um Sie her, wie einst, und sein ewiger Wellenschlag wird auch Ihr Werk an jene Gestade tragen, von denen aus die Menschheit in die Sonnenfernen ihrer Zukunft blickt! Und in diesem Sinne send’ ich Ihnen, hochverehrter Herr || meine besten, und herzlichsten Neujahrsgrüße! Hoffentlich bringt der nun langsam nahende Frühling auch Ihrer verehrten Frau Gemahlin wieder einige Erleichterung!

Herr Professor machen in Ihrem Schreiben – und nur darum sprech’ ich überhaupt noch davon – die Erwähnung, dass es Ihnen nun leid sei, den ersten Entwurf zu einer Besprechung meines „Robespierre“ vernichtet zu haben. Freund Carneri, der hochverehrte, hat mir Ihre Gründe auseinandergesetzt; ich verstehe und würdige dieselben. Dacht’ ich an eine Besprechung durch || Sie, so stellte ich mir nicht etwa eine vollständige Beurtheilung des ganzen Werkes im literarischen Sinne vor. Einen solchen Wunsch hätte ich mir nie gestattet. Von höchstem Interesse aber wär’ es mir gewesen, von Ihnen, als dem berufensten Vertreter der modernen Wissenschaft, einige Äußerungen zu vernehmen, über das Verhältnis meiner Poesie zu eben dieser Wissenschaft.

Doch genug von mir! Dieser Brief hat keinen anderen Zweck, als den, Ihnen, hochverehrter Herr Professor auch im neuen Jahre für Ihr liebevolles Eingehen || in meine dichterischen Pläne zu danken, und Ihre, mir so werte Freundschaft auch ferner zu erbitten!Damit zeichnet in Verehrung

Ihre

ergebene

M. E. delle Grazie.

a Datierung irrtüml.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
05.01.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 2
ID
2