Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Ernst Hierl, Jena, 14. Oktober 1898

Zoologisches Institut

der Universittät Jena.

Jena, den 14. Octb 1898.

Lieber Herr Hierl!

Ihren Brief habe ich wiederholt mit herzlicher Theilnahme gelesen, und ertheile Ihnen den gewünschten Rath nach bester Überzeugung. Mein Rath kann nur sein: Geduld! Halten Sie mit Selbstverleugnung noch dieses letzte Semester (oder Jahr) auf dem Gymnasium aus und machen Sie Ihr Abiturienten-Examen! Dann sind Sie frei und können auf Grund des Maturitaets-Zeugnisses sowohl jedes Ihnen zusagende Universitätsstudium, als auch eventuell eine andere Carriere ergreifen. ||

Wenn Sie dagegen jetzt den beabsichtigten Schritt thun und Ihren Bruch mit der katholischen Kirche öffentlich aussprechen, so versetzen Sie sich in die allerschlimmste Lage, ohne der guten Sache irgendwie zu nützen. Sie unterschätzen die Macht der Kirche, die Macht der Tradition und des Herkommens. Diese zertritt erbarmungslos jeden ehrlichen Rebellen, der sich wider sie aufzulehnen wagt. Besonders in den von Ihnen mir geschilderten Verhältnissen würde jener Schritt ganz nutzlos für die Wahrheit, verderblich für Sie sein. ||

Da wir als Culturmenschen innerhalb der civilisirten staatlichen Gesellschaft leben wollen, müssen wir uns auch bis zu einem gewissen Grade deren Sitten und Dogmen fügen, mögen dieselben noch so thöricht, falsch und unvernünftig sein. Wenn Sie bald Ihr Militaer-Jahr abdienen, wird Ihnen solcher Zwang in anderer Form wieder begegnen. Also fügen Sie sich dem Zwange! Nachdem Sie schon seit Jahren das auferlegte Joch des kirchlichen Aberglaubens und der Heuchelei getragen haben, ertragen Sie es noch ein letztes Jahr! ||

Mit dem Bekenntnisse der Wahrheit und der muthigen Aufbegehrung gegen das Joch der Lüge ist in dieser jämmerlichen Cultur-Welt gar Nichts gethan (Vergleiche Nordau, Conventionelle Lügen). Tausende von ehrlichen Märtyrern der Wahrheit sind an ihrem Idealismus zu Grund gegangen, ohne irgend Etwas erreicht zu haben. Wir müssen von unseren Todfeinden, den Jesuiten lernen. Also halten Sie mutig noch aus. Als Maturus können Sie getrost Ihrer Überzeugung folgen und hier oder anderswo die gewünschten academischen Studien treiben. Ohne Reife-Zeugnis würde dies hier nicht möglich sein, auch nicht später die Promotion. Mit besten Wünschen und aufrichtiger Theilnahme Ihr

E.Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.10.1898
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 19348
ID
19348