Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 20. April 1919

Stein. Kreuz 5, Bremen 20. Apr.1919.

Mein lieber alter Freund!

Jetzt ist die Zeit gekommen, in der das „alt“ nicht nur nach dem gewöhnlichen Maßstabe menschlichen Lebens gemessen gültig ist, sondern in der es auch in physiologischem Sinne unbedingt richtig erscheint. Der Doppelsinn des alten Verbrauchten und des alten Bewährten tritt gleichzeitig neben einander ins Bewusstsein. Nun, Deine freundschaftlichen Gesinnungen sind mit dem zunehmenden Alter ein so wertvoller Besitz für mich. Zu allererst hätte ich übrigens bei den ersten Worten dieser Zeilen für Deinen freundlichen Gruss zu meinem Geburtstage meinen herzlichen Dank sagen sollen. Es sind a mir bei demselben Anlasse sowohl schriftlich als mündlich zahlreiche freundliche Worte ausgesprochen worden, aber ausser meinen Geschwistern kann keiner der || Gratulanten an so alte Beziehungen anknüpfen wie Du. Von unserm Würzburgerb Mittagstische im „Ochsen“ waren freilich Dreier, Kottmeier und Strube selbst längst geschieden, aber ihre Witwen brachten mir doch ihre freundlichen Wünsche.

In den letzten Tagen habe ich mich wieder einmal, nach längerer Zeit, an Deinen Insulinde-Schilderungen erfreut; man fühlt sich beim Lesen in glücklichere Zustände versetzt, als sie gegenwärtig hier herrschen. Zu Deiner Bemerkung über das grosse Tollhaus der sogenannten Kulturwelt haben die hiesigen Wirren der jetzigen Woche einen mustergültigen illustrierenden Beitrag geliefert. Das hiesige Radaugesindel hat bei Ankunft des ersten grossen Dampfers mit amerikanischen Lebensmitteln einen lange vorbereiteten Streik ins Werk gesetzt und andere Arbeitergruppen zur Teilnahme überredet. Auf die Nachricht, dass das Schiff nicht löschen könnte, zogen Richter, Sekretäre, Anwälte u.s.w. an die Weser || und beschäftigten das Schiff so lange, bis mehr sachkundige Löschkräfte geholt werden konnten. Die Nachricht von dem Vorfall genügte aber, einen nachfolgenden zweiten Dampfer zurückzuschrecken; derselbe wurde dann mit Freuden in Bremerhaven empfangen, wo die Manie wenigstens nicht die nämliche seltsame Form angenommen hat. Den Oerindur, der diesen Zwiespalt der Natur zu lösen vermag, kenne ich nicht. Ob gestohlenes russisches Geld mitspielt?

Ganz vollständig habe ich noch nicht auf wissenschaftliche Kleinarbeit verzichtet, habe z. B. an einer neuen Ausgabe einer Lokalflora mitgewirkt; auch einen kleinen Beitrag zu einer Festschrift für Stahl geliefertc. Uebrigens ist es wenig genug, was ich tun kann, so wenig, dass esd eine wahre Freude für unsre regierenden Kommunisten sein könnte.

Im Winter hoffte man noch für den Sommer auf friedliche und geordnete Zustände, so dass ich schon Pläne zu kleinen Reisen machte. Jetzt erscheint die Zeit leider weiter hinausgerückt, – selbst die Ausflüge in die Nachbarschaft sind von Monat zu Monat schwieriger geworden. Meine Frau und ich haben namentlich den Wunsch, unsere Kinder und Enkel in Württemberg zu besuchen; die Reise dahin würde Gelegenheit zu einem Seitenabstecher nach Jena bieten. Gestern habe ich einem Studenten, der nach || Jena ziehen will, Grüsse für Dich mitgegeben. Sein Vater war hier einer der schwärzesten der waschechten schwarzen Theologen. – In Anschluss an Deine Zeilen möchte ich ausdrücklich hervorheben, dass mir bei meinem geplanten Besuche jeder Gedanke an Gastlichkeit u.s.w. fern gelegen hat. Für Arabien wären solche Pläne sachgemässer.

Diese Zeilen kann ich bei den hiesigen Zuständen doch nicht geschlossen absenden; daher meinerseits Schluss und nochmals herzlichen Dank! Lebewohl!

es gedenkt Deiner in alter Treue

Dein W. O. Focke.

a gestr.: ist; b eingef.: Würzburger; c eingef.: geliefert; d eingef.: so wenig, dass es

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
20.04.1919
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1922
ID
1922