Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 13. Februar 1919

Stein-Kreuz 5, Bremen, 13. Febr. 1919.

Mein lieber alter Freund!

Nun ist vom neunten Jahrzehnt unseres Lebens die erste Hälfte verstrichen – und zum Beginne eines neuen Abschnittes kann ich Dir nur wünschen, daß recht bald die Morgenröte eines neuen Zeitalters sich zeigen möge. Schon lange hast Du das böse Ende des großen Krieges vorausgesehen, während ich mich immer noch an die Hoffnung klammerte, es möchte schließlich doch noch gelingen, den allerschwersten Verlusten vorzubeugen. Nun – es hat nicht sollen sein – hoffen wir auf einen wirklichen Abschluß des letzten Aktes und dann mögen unsere Kinder und Enkel denken: impavidi progrediamur!

Für Dich selbst wünsche ich nun jetzt schon einen freundlichen Lebensabend, dessen Färbung ja nicht allein von den Geschicken des Vaterlandes abhängt. Durch die Deinigen und vielleicht durch einen Kreis von wahren Freunden möge Dir noch Freude erblühen.

Von mir ist nicht viel zu berichten. Von meinen Enkeln ist einer noch in englischer Gefangenschaft, ein anderer, der neulich seine Vaterstadt mit den Waffen von Gesindelherrschaft befreien half, sitzt wieder auf der Schulbank. – Seit Jahren habe ich im Winter jedesmal gehofft, ich könne Dir im folgenden Sommer noch einmal einen persönlichen Gruß sagen, aber stets trat der fortdauernde Krieg mit seinen Störungen hindernd dazwischen. Auch jetzt zeigen sich zuweilen wieder schöne Pläne und Luftschlösser – ob es mehr als eine Fata Morgana ist? Mein Weg würde von Thüringen weiter nach Württemberg zu meinen Kindern führen.

Also – mit allen Einschränkungen, die das 9te Lebensjahrzehnt mit sich bringt – ein herzliches Glückauf zum kommenden Geburtstag!

Es gedenkt Deiner in alter Freundschaft

Dein W. O. Focke.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
13.02.1919
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1921
ID
1921