Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 14. Februar 1918

Stein Kreuz 5, Bremen, 14.2.18.

Mein lieber alter Freund!

Der nahende 16. Februar bietet mir einen besonderen Anlass, Dir meine herzlichsten Glückwünsche für das beginnende neue Lebensjahr auszusprechen. Mit grossem Interesse habe ich Deine „Kristallseelen“ gelesen und habe den Eindruck erhalten, dass die Fülle der Vorstellungen und Gedanken in dieser Schrift nicht auf einen Schwund der geistigen Kräfte schliessen lässt. Ausgerüstet mit einem solchen Vorrate geistiger Kräfte kannst Du getrost in einen neuen Lebensabschnitt eintreten. Der notwendige Bedarf an Leistungsfähigkeit kann jedenfalls noch recht gut gedeckt werden. Also Glückauf für’s neue Lebensjahr!

Wer in der Welt etwas verschiedene Wege wandert, wird auch verschiedene Eindrücke erhalten, so dass sich seine Vorstellungen von den Gegenden, die er kennen gelernt, auch seinen besonderen Erfahrungen gemäss gestalten müssen. In den Grenzgebieten des Erkennens, in denen das Wissen noch lückenhaft ist, so dass die einzelnen Teiltatsachen durch Ahnen und Vermuten verknüpft werden müssen, ist die Mannichfaltigkeit der Ansichten natürlich besonders gross. Daher mache ich mir von dem Zusammenhange der Dinge in manchen Fällen etwas andere Vorstellungen als Du. Auch verzichte || ich Schwierigkeiten gegenüber vielleicht allzu schnell auf eine Erklärung; wenn ich auch nicht ignorabimus sage, so denke ich doch in solchen Fällen vorläufig: ignoramus. Gewinnen wir an Wissen auf Nachbargebieten, so mag sich unsere Auffassung ändern. So z. B. halte ich die Kluft zwischen organischem und unorganischem Geschehen nicht für ausgefüllt oder auch nur für überbrückt. Die äussere Gestalt tut’s nicht; einen Organismus kann man tot sehen, ohne dass sich in seiner Form etwas ändert. Aehnlichkeiten in der Erscheinung beweisen nichts; auch würde ich vermuten, dass die ursprünglichsten Organismen viel zu klein waren, um anders als vielleicht durch das Ultramicroskop gesehen zu werden. Auf solchem Wege kann man aber keine Gestalten mehr erkennen. Ein Entstehen einfachster Organismen aus Wasser, Kohlensäure, Ammoniak, anorganischen Baustoffen u.s.w. müsste bei Urzeugunga möglich sein unter dem Einflüsse von Licht, Wärme, Elektrizität, wenn man die Versuche genügend abänderte. Aber woher die erforderlichen chemisch-borganischen Verbindungen? woher die Assimilation und Reproduktion? Wir wissen zu wenig von den ultramikroskopischen Organismen, deren Stoffwechsel, z. B. bei den Krankheitskeimen, schon ziemlich verwickelt sein muss. Kleinere und einfachere Organismen kennen wir aber nicht. Und ganz einfache Prae-Organismen? Ja, da sind wir beim: ignoramus. ||

Entsprechende Zweifel stellen sich bei vielen Fragen und Hypothesen ein und so wirst Du mir gestatten, die Welt nach meiner Art aufzufassen, während ich die viel tiefer ausgearbeitete Deinige mit Interesse betrachte, aber sie mir nicht in allen Punkten aneigne.

Aus Deinem Buche habe ich viel gelernt und viele Anregungen erhalten, so dass ich Dir für Deine Schrift mit den schönen Abbildungen sehr dankbar bin. – Wenn ich noch etwas tue, so ist es Kleinarbeit, die ja auch da sein muss. Augenblicklich beschäftige ich mich mit der Neuherausgabe einer Flora von Bremen, doch habe ich die Hauptarbeit meinem Freunde Bitter übertragen, der mich schon bei der vorigen Auflage unterstützte. Daneben gibt es allerlei kleine Einzelheiten, aber an etwas Grösseres wage ich mich nicht mehr. Viel kann ich nicht mehr tun; meine grosse Familie gibt mir mancherlei Beschäftigung.

Ob jetzt der Krieg wirklich seinem Ende sich zuneigt? Dann können wieder Pläne entstehen, d. h. Pläne, alte liebe Stätten und Menschen nochmalsc aufzusuchen. Nach England ginge ich freilich nicht wieder, wenn ich auch viel jünger und rüstiger wäre.

Also nun noch einmal Glückauf für's neue Lebensjahr! Frieden und ruhige Freude an dem vielen Guten, das Dich umgiebt, an der Schönheit, die Deinen Lebensweg stets verklärt hat.

Es gedenkt Deiner

in alter Freundschaft

Dein W. O. Focke.

a eingef.: bei Urzeugung; b eingef.: chemisch-; c korr. aus: wieder

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
14.02.1918
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1920
ID
1920