Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 25. Juni 1916

Stein. Kreuz 5, Bremen, 25. Juni 1916.

Lieber alter Freund!

Von allen Grüssen, die ich um Mitte dieses Monats zu meinem Gedenktage erhielt, war mir der Deinige am meisten erfreulich. Zwar war es eigentlich mein Gedanke, bei der Feier der Erinnerung an die Begründung meiner Familie nicht über den Kreis der allernächsten Familie hinauszugehen. Nun hat nicht nur der Krieg im allgemeinen, sondern der dadurch herbeigeführte plötzliche Verlust eines lieben und trefflichen Schwiegersohns insbesondere für meine Frau und mich jeden Gedanken an eine Feier abgeschnitten. Wir haben unsern Erinnerungstag still auf dem Lande unter wenigen Kindern und Enkeln bei einer Tochter verlebt. Aus meinem hiesigen Freundeskreise, in dem ich einst zur Zeit meiner Hochzeit verkehrte, lebt nur noch Dreier’s Frau.

Die einzelnen Familien sind merkwürdig ungleich von den Schrecknissen des Krieges betroffen worden. Ganz ohne Verluste kommt kaum ein grösserer Kreis davon. Ungewöhnlich schwer scheinen || nach Deinen Mitteilungen die Angehörigen Deiner Familie gelitten zu haben; von meinen Neffen und Grossneffen so wie den Söhnen meiner Vettern und Basen sind nur wenige gefallen oder durch Verwundung dauernd geschädigt. Sie gehören den verschiedensten Waffengattungen und Regimentern an. Aber schwerlich ist der Krieg schon dem Ende nahe. Das alte Wort, nach welchem zum Kriegführen erstens Geld, zweitens mehr Geld und drittens das meiste Geld gehört, ist auch heute noch gültig und zweifellos haben die Engländer bei weitem am meisten Geld zusammengeraubt und gestohlen.

Die Zeit nach dem Frieden sehe ich, abgesehen von den ersten Jahren, nicht so besonders schwer an, vergl. 1813 und 1815. Anstrengung wird sie freilich erfordern und zwar tüchtige. Im Uebrigen vermute ich, dass die Engländer in ihrem Hochmut noch viele ähnliche Fehler machen werden, wie der einst mit dem „made in Germany“ begangen. – Doch, eine solche Zukunft werden wir beiden nicht mehr erleben – dergleichen Dinge erfordern Zeit.

Von mir ist nicht viel Besonderes zu erzählen; mit dem Reste || von Kräften, der mir geblieben ist, suche ich haushälterisch umzugehen; ich mache noch kleine Ausflüge und kann noch etwa 6, unter Umständen vielleicht 10 km am Tage gehen. Aus meinen früheren botanischen Beobachtungen suche ich hin und wieder noch kleine Aufsätze zusammenzustellen; ich glaube, dass ich neulich einmal eine solche Probe schickte.

Unter günstigeren friedlichen Verhältnissen würde sich die molesta senectus ohne Zweifel weit angenehmer gestalten lassen als jetzt. Aber die Zukunft ist dunkel, doch „vielleicht“ erleben wir noch den Anfang einer besseren Zeit.

Nochmals herzlichen Dank für Deinen Brief! hoffentlich erhältst Du Dich frisch und gesund.

In freundschaftlichem Gedenken

Dein W. O. Focke.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
25.06.1916
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1912
ID
1912