Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 14. Januar 1916
Stein.Kreuz 5,
Bremen, 14 Jan. 1916.
Lieber alter Freund!
Beim Jahreswechsel wurde ich von Dir durch freundliche Zusendung Deiner neuen Schrift „Ewigkeit“ erfreut, für die ich Dir meinen besten Dank sage. Ich glaube nicht, dass ich besonders stolz auf meine Prophetengabe zu sein brauche, auf meine Voraussicht, dass Dein ehemaliger Vorsatz, nichts mehr zu schreiben, in einen schönen Traum zerrissen werde. Wer einmal gewohnt ist, zu allen Fragen und allen Ereignissen, die ihn beschäftigen, Stellung zu nehmen und seine Meinung zu || äussern redet, so lange er kann.a Wir leben jetzt mit andern Menschen als die waren, mit denen wir unsere Jugend genossen - und das Schwergewicht der alten Erfahrungen und Vorstellungen, die wir mitbringen und die wir nicht ganz abstossen können, verhindert uns daran, in voller Freiheit mit den Jungen zu wetteifern. Nach hundert Jahren wird man den Unterschied zwischen uns und den heutigen Modernen nicht mehr hoch einschätzen.
Wir müssen uns zunächst mit den Engländern abfinden, welche die „foreigners“ einfach als „inferior races“ behandeln. Die Buren betrachteten sie wie Bienen, denen man, statt Wachs und Honig, Diamanten und Gold wegnahm. Schwarze und Kosacken gelten ihnen heutzutage als Füchse, die man mit b angebundenen Feuerbränden || in Feindesland jagte. Franzosen und Russen sind ihnen heutzutage nützliche Helfer, wie Pferde und c Kamele. Den Franzosen scheint schon die Erkenntnis zu dämmern, dass sie, wenn sie das Elsass bekämen, dafür das Nord-Departement an das edle, hochherzige und treu verbündete England geben müssten. – In meiner Jugend war ich, gleich andern Leuten, der Meinung, dass England aus „Menschlichkeit“ die Sklaven befreit habe!! Das grenzte schon an Bertha von Suttner.
Man vertieft sich heute in Dinge, die man nicht vergessen, aber ruhen lassen sollte. Zu andern Zeiten sandte man sich beim Jahreswechsel die schönsten Glückwünsche; jetzt, wo von Frieden noch keine Rede sein kann, ist man bescheiden geworden und flüstert nur noch ein „auf Wohlergehen“. Bisher bin ich noch nicht unmittelbar schwer || betroffen; 3 Schwiegersöhne stehen als Aerzte im Felde, 1 Enkel wird bald ausgebildet werden. Anders freilich steht es mit jungen Freunden. – So weit es möglich ist, möchte ich Dir meine besten Wünsche für das neue Kalenderjahr aussprechen. Im vorigen Jahre hoffte ich Dich noch einmal zu besuchen, aber man wird im Alter schwerfällig und – allerdings unter dem Druck der Verhältnisse – in Wirklichkeit bin ich kaum über meine nächsten Umgebungen hinausgekommen.
Also nun nochmals: besten Dank ein – verhältnismässig – gutes Jahr! Gern gedenkt Deiner
Dein W. O. Focke.
Stein. Kreuz 5, Bremen.
a eingef.: redet, so lange er kann.; b gestr.: f; c gestr.: Xxx