Hontschik, Henriette

Henriette Hontschik an Ernst Haeckel, Graz, 6. Dezember 1910

Exzellenz!

Hochgeehrter Herr Geheimrat!

Voll Vertrauen auf die umfassende wissenschaftliche Erkenntnis und Vorurteilslosigkeit des Autors jenes großartigen Werkes: Die Welträthsel, folge ich mit diesem Schreiben einer unabweisbaren Zwangsvorstellung, daß nur Sie Exzellenz mir in nachfolgender Angelegenheit den richtigen Weg zu zeigen vermögen: ||

Mein innigst geliebter Vater ward als Autodidakt von dem Forschungstriebe nach Wahrheit so durchdrungen, daß er unter den größten Mühsalen und Entbehrungen beifolgendes Werk unter Kreuzbanda: die Menschenreichkunde – schuf. Es ist mit seinem Herzblut geschrieben! – Als Atheist verschrien, stand er bald ganz isoliert da und als er vor 10 Jahren im 84. Jahr am Sterbebette lag, übergab er mir dies Buch als teuerstes Vermächtnis. –

Da ich jedoch als städtische Lehrerin in Brünn für den Unterhalt meiner Familie zu sorgen hatte, durfte ich damit nicht in die Öffentlichkeit, || wohl wissend, daß mich dies bald um Amt und uns alle ums Brot brächte. – In mit lebt jedoch das glühende Verlangen, für die tiefe Wahrheit, die in dem Lebenswerk des teuren Dahingeschiedenen enthalten ist, einzutreten; wenigstens einen kleinen Anteil an der Vernichtung des fluchwürdigen Wahnes von der persönlichen Seelenunsterblichkeit und einem übersinnlichem jenseitigen Leben zu nehmen. –

Wohl bin ich dessen bewußt, daß der Stil und Satzbau des Buches schwerfällig und für die meisten Menschen unverständlich ist, doch dem Geistesheros Haeckel nicht! Dieser wird das Verständnis || für die Goldader haben, die im tauben Gestein eingebettet ist und mir Hilfe und Rat nicht versagen, was ich beginnen soll. –

Vor Jahresfrist gieng ich infolge von Augenschwäche in Pension und bin jetzt frei! Ich lebe mit meiner älteren Schwester in Zurückgezogenheit.

Mit großer Begeisterung verfolge ich die Bewegung die als „Weimarer Kartell“ ganz meiner Überzeugung entspricht und wäre geneigt, meinen Wohnsitz nach Frankfurt o. Weimar zu verlegen; nur müßte ich vorher wissen, wie man die Menschenreichkunde beurteilt. Ich würde gerne dieselbe interpretieren. Ganz ohne persönlichen Ehrgeiz, bedarf ich keiner finanziellen Unterstützung und will nur in selbstloser Weise der Menschheit dienen. – ||

In mir lebt die unumstößliche Überzeugung, daß nur das in Vaters Werk enthaltene System die Grundlage für ein neues Evangelium der Menschheit bildet.

Exz. Herr Geheimrat wollen mir gütigst eine Nachricht zukommen lassen, worauf gläubig harrt

Euer Exzellenz

hochschätzende

Henriette Hontschik

Fachlehrerin i. R.

Graz am 6. Dezember 1910

Harrachgasse 3.

a mit Einfügungszeichen eingef.: unter Kreuzband

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
06.12.1910
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 19068
ID
19068