Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Werftpfuhl, 22. Mai 1910

Johanna-Heim

Station Werftpfuhl

J. No.

Werftpfuhl 22.Mai 10.

Bei Werneuchen (Markk).

Mein lieber alter Freund!

Heute erhielt ich gleichzeitig Deine beiden Briefe, einen nach Bremen und einen nach Steglitz gerichteten, aus denen ich entnahm, dass die Hoffnung auf ein Wiedersehen zu Dreien schliesslich doch getäuscht worden ist. Fast eine Freude war es für mich, gleichzeitig ein Telegramm von Krabbe zu erhalten, der mir mitteilt, dass auch er verhindert ist zu kommen. Schade – es hat nicht sollen sein.

Mehr noch als Deine Verhinderung selbst habe ich die Ursache derselben bedauert. Es war mir im allgemeinen die geistige Umnachtung Deiner Tochter bekannt, aber natürlich scheut man sich, solche wehe Punkte zu berühren, || wenn man ausser Stande ist, etwas daran zu bessern. Ich lebte aber in der Meinung, dass der notwendige Schritt der Trennung von der Kranken schon vor vielen Jahren getan sei und längst hinter Dir liege. Man glaubt gewöhnlich, dass man die Unglücklichen durch Verweisung in eine Anstalt nur noch unglücklicher mache. Das ist aber im allgemeinen durchaus nicht der Fall. Im Hause vergleichen sich die geistig Gestörten mit den Gesunden, selbst wenn sie sich dessen auch nicht mehr recht bewusst sein können; sie wollen tun was Andre tun – daher stets neue Konflikte. In der Anstalt werden alle Anlässe zu Zusammenstössen aus dem Wege geräumt; jeder Einzelne wird nicht anders behandelt als die Schicksalsgenossen, und dadurch wird die Stimmung wenigstens allmählich eine ruhigere – von einsichtigen Menschen würde man sagen, eine ergebenere. || Ich glaube, Du kannst ohne jede Selbsttäuschung der Ueberzeugung sein, dass Deine Kranke in der Anstalt sich weniger unglücklich fühlen wird als zu Hause. – Im einzelnen liegt natürlich jeder einzelne Fall wiederum verschieden; ich kann nur nach dem Durchschnitt urteilen.

Die Hoffnung auf ein Wiedersehen zu Zweien gebe ich noch nicht auf, so dass ich nun zunächst an Besuche in Kopenhagen und in Jena denke. – (Spätsommer?)

Hier in Werftpfuhl benutze ich eine ruhige halbe Stunde zum Schreiben, gehe aber heute Abend nach Steglitz zurück. Gegen Ende der Woche, vielleicht schon Donnerstag, denke ich wieder zu Hause zu sein.

In der Hoffnung, dass die schweren Tage bald überstanden sind, denke ich Deiner und Deiner Frau mit herzlicher Teilnahme

freundschaftlichst

Dein W. O. Focke

Brief Metadaten

ID
1899
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Werftphul
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
22.05.1910
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1899
Zitiervorlage
Focke, Wilhelm Olbers an Haeckel, Ernst; Werftphul; 22.05.1910; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_1899