Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 29. Juni 1870
Adresse:
Dr. W. O. Focke,
Altenwall 4,
Bremen.
Bremen, 29 Juni 1870
Lieber Freund!
Vor einigen Tagen empfing ich die zweite Auflage Deiner Natürl. Schöpfungsgeschichte nebst der beigefügten Rede über die Aufgaben der Zoologie. Indem ich Dir meinen herzlichsten Dank für diese Schriften ausspreche, freue ich mich der bedeutenden Entwickelung, welche Dein Werk bereits in dem kurzen Zeitraum von anderthalb Jahren erfahren hat. Die Beseitigung der Anteperioden halte ich für einen Gewinn, und ebenso allgemeine Anerkennung wird auch die reichere Ausstattung des Buches mit Tafeln finden. Der Passus über die militärische Zuchtwahl dagegen wird vermuthlich einige Leute ärgern, wozu er auch wohl bestimmt ist; obgleich ich natürlich den Prinzipien beistimmen muß, bin ich doch nicht so unbedingt von der Schädlichkeit des Militärdienstes für die Tüchtigkeit der Rasse überzeugt. Der Krieg ruinirt freilich die Blüthe der Jugend, dagegen ist || andrerseits der Friedensdienst ein wirklich gutes und löbliches Kräftigungsmittel für die ganze Constitution. Ich bin kein Freund preußischer Einrichtungen, muß aber den preußischen Militärs das Zeugniß geben, daß sie mit Verständniß an der Erhöhung der körperlichen Tüchtigkeit ihrer Mannschaften arbeiten. – Was Du dagegen von der medizinischen Züchtung bemerkst, muß ich leider als vollkommen richtig anerkennen. Seit 10 Jahren habe ich vielfach über diese Angelegenheit nachgedacht, und habe mich nicht von der Ueberzeugung losmachen können, daß die Bemühungen der Aerzte mehr wohlmeinend als wirklich nützlich sind. Glücklicherweise für die Menschheit im Großen und Ganzen sind sie ziemlich erfolglos. Dagegen ist es mir zweifelhaft, in wie weit die neuen Anstrengungen, den Gesundheitszustand der Stadtbevölkerungen durch allgemeine sanitarische Maßregeln zu verbessern, für die zukünftigen Geschlechter von Nutzen, in wie weit sie nachtheilig sein werden. Ich glaube, daß dadurch das allgemeine Wohlbefinden der Stadtbewohner dauernd gefördert, die die Widerstandsfähigkeit des kräftigen Theils der Städter dagegen vermindert werden muß. Die Elite der Bevölkerung größerer Städte ist gegenwärtig doch der zäheste, unverwüstlichste und sich am leichtesten ungünstigen Verhältnissen accommodirende || Theil der Menschheit.
Dein Buch erinnert mich wieder daran, daß ich eine ganze Reihe mehr oder weniger durchgearbeiteter Skizzen, welche sich auf die Geschichte der Arten beziehen, vorräthig habe. Das praktischer Leben und die Alltagsgeschäfte nehmen mich wieder viel zu sehr in Anspruch, um an ruhiges wissenschaftliches Arbeiten denken zu können. Herausgerissene Zwischenstunden, in denen man mehr oder weniger abgespannt nach Hause kommt, sind für solche Zwecke nicht zu verwerthen. Als Mitglied unserer „Bürgerschaft“, d.h. Stadtverordneten, muß ich erst einige neue Einrichtungen durchführen helfen; wenn das geschehen ist, kann ich wenigstens die lokalpolitische Thätigkeit aufgeben und mich auf die mir näher liegenden Dinge beschränken. Indeß will ich doch suchen das erwähntea, nicht ganz unbedeutende Material zu ordnen und zu sichten, b so weit es sich auf die Geschichte der Organismen bezieht; im vorigen Winter mußte ich mich mit Dingen befassen, für welche ich im Grunde weit geringeres Interesse hatte.
Die Brombeeren studire ich jetzt ruhig weiter; über Mangel an Material aus den meisten Gegenden Deutschlands habe ich nicht mehr zu klagen. Natürlich ist unter den Zusendungen, die ich erhalte, meist wenig Brauchbares, || aber man muß doch mit Allem zufrieden sein. Ich cultivire und hybridisire meine Brombeeren jetzt fleißig; die Dinger wachsen leider nicht schnell, besonders nicht in dem schlechten Boden, den ich ihnen bieten muß. Meine einfachen Culturen haben bereits einige allgemeine Resultate geliefert; die Kreuzungen werden erst nach einigen Jahren zuverlässige Aufschlüsse geben. So lange muß ich auch eine vollständige Bearbeitung des Genus hinausschieben. Nebenbei experimentire ich übrigens in meinem Versuchsgärtchen auch an andern Gewächsen, suche u. A. auch Darwin’s Primelstudien fortzusetzen; meine ersten umfassenden Beobachtungen über diese Pflanzenc datiren schon vor das Erscheinen von Darwin’s Arbeit zurück.
Es freut mich, daß Du in Deinem Werke d den monistischen Anschauungen von Treviranus gerecht geworden bist. Ich will mich jetzt ernstlich bemühen, meine angefangenen Arbeiten fortzuführen, damit ich auch für die dritte Auflage der Natürl. Schöpfungsgeschichte einen oder den andern Beitrag liefern kann.
Meine Frau und meine beiden Töchterchen befinden sich wohl und hoffe ich, daß Du von Deiner Familie das Gleiche sagen kannst. – Nun überarbeite Dich nur nicht, damit Du nicht den Aerzten in die Hände fällst, habe nochmals Dank für Deine schöne Gabe, lebe wohl und sei herzlich gegrüßt
von Deinem
W. O. Focke.
a eingef. mit Einfügungszeichen: erwähnte,; b gestr.: welches, eingef.: so weit es; c korr. aus: Gewächse; d gestr.: auch