Jodl, Friedrich

Friedrich Jodl an Ernst Haeckel, Obertressen bei Aussee, 10. August 1905

Obertressen bei Aussee

10. August 1905.

Hochverehrter Herr Kollege!

Erst jetzt ist es mir möglich, Ihnen für die gütige Übersendung der Berliner Vorträge meinen Dank zu sagen. Die letzten Wochen unseres Sommersemesters waren teils durch starke Arbeitsbelastung, namentlich viele Prüfungen, teils durch einen in meiner Familie eingetretenen Todesfall sehr anstrengend für mich u. nach der Flucht aufs Land tritt bei mir zuerst immer eine Periode || völliger Abspannung ein. Nun möchte ich Ihnen zwar spät aber darum nicht weniger herzlich danken, nicht nur für das Buch sondern für die mutige Tat Ihres kampffrohen Bekenntnisses selbst wegen deren Sie soviel Unglimpf haben erfahren müssen. Dieses Bekenntniß u. die Entschiedenheit mit welcher Sie Ihre Position verteidigen bewerte ich umso höher, je zweideutiger heute die Haltung vieler Naturforscher, Physiker u. Biologen, in Bezug auf die grundlegenden Begriffe ist – ich will gern glauben, nicht aus obskurant-||istischen Tendenzen, sondern einem gewissen ehrlichen Hyperkriticismus zu Liebe. Wenn man dann auf der andern Seite sieht – u. gerade dieser Punkt wird in Ihren Vorträgen auf’s Schlagendste illustrirt – mit welcher Geschicklichkeit die Kirchlichen es verstehen, ihren Thomismus u. Scholasticismus naturwissenschaftlich aufzuputzen, oder vielmehr alle Ergebnisse der Naturforschung scheinbar ihrem System einzuverleiben, so bekommt man den Eindruck, als sehe man da einem Tunnelbau zu, der von entgegengesetzten Enden be-||gonnen wird u. bei dem sich zuletzt beide Arbeitsparteien gerührt in die Arme sinken: Tableau! Versöhnung zwischen Glauben u. Wissen. Allianz der vernünftigen u. der unvernünftigen, i.e. geoffenbarten Wahrheit. Triumpf der Kirche über die glaubenslose Kultur.

Welch’ ein Segen, wenn es gelingt, wenigstens auf der einen, der naturwissenschaftlichen Seite das Alignement ein wenig zu verrücken, so daß die beiden an einander vorbeikommen! Quod felix faustumque sit! Mit den besten Wünschen für gute Ferienerholung

Ihr aufrichtig ergebener

FrJodl

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
10.08.1905
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 18444
ID
18444