Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 14. Januar 1868

Bremen, 14 Januar 1868.

Mein lieber alter Freund!

Ueber Deinen Brief vom 11 Nov. v. J. habe ich mich recht gefreut, besonders da er mir Dein neu gewonnenes häusliches Glück vergegenwärtigt. Meinem Freunde Kottmeier und einem meiner Schwäger, welche sich in gleicher Lage befinden, in der Du warst, wünsche ich von Herzen Muth und Kraft zu einem ähnlichen Entschlusse wie der, dem Du Deine jetzige Häuslichkeit verdankst. Strube hat ja endlich auch den Junggesellen abgeschworen und wird bald Ehemann sein; er und seine Braut gehören jetzt dem kleinen medicinischen Kreise an, welchen Kottmeier, Dreier, Stadler und ich mit unsern respectiven Frauen bereits früher gebildet hatten.

Seit einigen Wochen bin ich zur Stadt gezogen und fühle mich in den freundlichen, wohnlichen Räumen meines kleinen Hauses am Altenwall schon recht heimisch, vielleicht mehr als irgendwo sonst in den verschiedenen Lokalitäten, in welchen ich während der letzten Jahre gelebt habe. Ich habe einen freundlichen Blick ins Grüne der Wallanlagen, sobald es Sommer wird; jetzt habe ich wenigstens einen freien || Horizont und zuweilen prachtvoll mit Rauhreif bekleidete Bäume vor mir. – Meine Arbeitskraft ist noch immer gering; wenn ich aber vorsichtig lebe und wenig thue, fühle ich mich wohler, als seit langer Zeit. Das Lesen und Schreiben kann ich aber natürlich nicht lassen, besonders da die Witterung mir größere Wanderungen in’s Freie meistens verbietet. Vorläufig bin ich ganz gut damit zufrieden, daß ich nur wenig eigentliche Berufsgeschäfte habe; später muß ich natürlich wieder ernstlich nach lohnender Arbeit suchen; indeß ist einige Aussicht vorhanden, daß ich Beschäftigung finde, welche mir ein einigermaßen genügendes Einkommen sichern, ohne jedoch meine ganze Zeit zu absorbiren.

In einigen Wochen werde ich Dir das erste Product meiner jetzigen Mußestunden schicken können, es ist ein Aufsatz über meine Brombeerstudien. Die Hauptmasse des Inhalts ist Rohmaterial; die Veröffentlichung desselben hat wesentlich den Zweck, andern Leute zu zeigen, daß ich die Gattung Rubus gründlicher studirt habe, als viele frühere große „Rubologen“, wie sie sich abgeschmackter Weise selbst bezeichnet haben. Ich hoffe dann leichter eine größere Menge von brauchbarem Material zur Untersuchung zu bekommen, als mir ohnedem zu Gebote steht. Es ist || nämlich meine Absicht die Untersuchung der einen Gattung Rubus, so weit es die Umstände erlauben, möglichst genau durchzuführen, da jede Specialforschung, die sich über eine einzelne Gruppe erstreckt, nothwendig Licht auf andere Gruppen werfen muß, und da alle bisherigen ähnlichena Untersuchungen entweder sehr einseitig und oberflächlich waren, oder von ganz befangenen Vorstellungen über das Wesen der Species ausgingen. Im Anfange und am Schlusse meiner Abhandlung wirst Du indeß einige Resultate meiner bisherigen Untersuchungen finden, die Dich vielleicht interessieren. Ich sammle jetzt Material zu einem kleinen Aufsatze, dessen Plan ich im Wesentlichen fertigb habe und den ich als Brochüre zu veröffentlichen denke. Ausführliche Aufsätze kann ich jetzt nicht schreiben; in gedrängter Kürze will ich darin die Ansichten niederlegen, welche ich mir über die Artbildung im Allgemeinen und über den Einfluß der hybriden Befruchtung auf dieselbe im Besonderen gebildet habe. Ich denke dort Manches näher zu entwickeln, was ich in meinem Brombeeraufsatze nur angedeutet habe; gelegentlich komme ich auch auf allerlei Dinge zu sprechen, die nur mittelbar mit dem Thema zusammenhängen, wie z. B. meine Eiszeit-Theorie, die sich wenigstens durch große Einfachheit auszeichnet. Als || es noch kein ewiges, festes Polareis gab, kam die ganze Masse des im Winter gebildeten Polareises im Sommer in’s Treiben und schmolz in südlicheren Gegendenc. Ist es zu verwundern, daß diese arctische Eissendung den mittleren Breiten ihre warmen Sommer verdarb? – Seitdem das Polareis in einen großen Klumpen zusammengewachsen ist, schmilzt, mit verhältnißmäßig geringen Ausnahmen, jedes Land sein eigenes Wintereis, was natürlich für die Gegenden mittlerer Breiten ungleich vortheilhafter ist, als der ehemalige Eiscommunismus mit den Polarregionen. – Sehr reiches Material über Variationen bringt Darwin’s neuestes Werk, doch vermisse ich hin und wieder die kritische Sichtung der Thatsachen, welche mitunter etwas mangelhaft beglaubigt sind. Indeß für eine Beobachtung, die nicht recht stichhaltig ist, erhält man zehn, denen weniger anzuhaben ist. Nothwendig muß ein solches Buch von enormer Bedeutung für alle Experimente sein, die in Zukunft angestellt werden; man wird Versuche mit Züchtungen und Kreuzungen mit viel mehr Methode und öfter zu bewußten Zwecken unternehmen als bisher.

Beifolgendes Bildchen mag Dir mein häusliches Glück vergegenwärtigen; meine Frau hört stets mit großer Theilnahme von Dir. Und nun wünsche ich Dir und den Deinigen ein recht glückliches Jahr und tüchtige wissenschaftliche Erfolge.

Mit herzlichem Gruße und in alter Freundschaft

Dein W.O. Focke

Altenwall 4.

a eingef. mit Einfügungszeichen: ähnlichen; b eingef. mit Einfügungszeichen: fertig; c korr. aus: Gegeden

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
14.01.1868
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1842
ID
1842