Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 6. Juli 1865

Bremen 6 Juli 1865

Anfang im Juni

Lieber Freund!

Seit vorigem Herbste habe ich schon manches Mal die Absicht gehabt Dir zu schreiben, habe aber immer mit der Ausführung gezögert, weil ich Gelegenheit zu haben hoffte Dir bald mehr mitzutheilen, als ich es in jedem Augenblicke vermochte. In meiner neuen Stellung an der Krankenanstalt hatte ich mit mancherlei Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten zu kämpfen; erst allmällig klären sich die Verhältnisse. Das gesammte ärztliche Personal hat sich seit Jahresfrist regenerirt, nur ein Assistenzarzt ist noch übrig, wird aber auch bald abgehen; der Hausverwalter ist kürzlich ebenfalls gestorben, so daß auch dieser Posten durch eine frische Kraft besetzt werden muß. Du kannst Dir denken, wie unerquicklich eine solche Uebergangsperiode ist, namentlich für Den, der selbst noch keinen festen Fuß auf dem neubetretenen Boden gefaßt hat. Leider hat ein Schlag, der meine Familie traf, mich gehindert || gerade in dieser kritischen Zeit mit voller Kraft für die Anstalt zu wirken. Mein Vater war der Mittelpunkt und das anerkannte Haupt eines großen Familienkreises, a er entfaltete eine umfassende Thätigkeit innerhalb seines amtlichen Berufes als Richter und hatte außerdem zahlreiche Interessen und mancherlei Beziehungen zu den verschiedensten Persönlichkeiten festgehalten. Ganz plötzlich wurde er aus dieser vielseitigen Wirksamkeit herausgerissen – Niemand wußte irgendwie von den Angelegenheiten, Verwaltungen und Geschäften Bescheid, welche er unter Händen gehabt hatte – Niemand kannte die Stellen, wo er diese oder jene Dinge verwahrt hatte – Niemand hatte eine Uebersicht über das Vorhandene. Die Durcharbeitung dieses ganzen großen Nachlasses fiel mir schließlich allein zu; ich mußte mich in Verwaltungen und Rechnungswesen hineinstudiren und vielerlei mir gänzlich fremde Verhältnisse kennen zu lernen suchen um nur überhaupt vorwärts zu kommen. Meine Brüder sind noch zu jung um selbständig auftreten zu können, ich war daher auch darauf angewiesen meiner Mutter und meinen Geschwistern einigermaßen die Stütze zu ersetzen, welche ihnen durch || den Verlust des Vaters verloren gegangen war. Dazu kam – doch genug der Einzelheiten – kurz ich habe einige Monate mit äußerster Anstrengung gearbeitet, aber meine Kräfte nach so vielen Seiten hin zersplittern müssen, daß die Resultate höchst unbedeutend sind. Es ist mir gelungen alle Angelegenheiten, die meines Vaters meiner Familie, der Krankenanstalt und meine eigenen einigermaßen in Ordnung zu halten und theilweise abzuwickeln, aber es gewährt natürlich wenig Befriedigung, wenn man nur Schaden verhütet und nichts Positives geleistet hat. Als ich endlich nach allen Richtungen hin einigermaßen Licht sah, brachen auch meine Kräfte zusammen; die gemüthlichen, geistigen und körperlichen Anstrengungen des Winters haben mich so erschöpft, daß ich seit mehr als zwei Monaten eigentlich nur das Allernothwendigste gethan habe, und die rückständigen Arbeiten sich mehr und mehr anhäufen. In den letzten Tagen scheint es mir etwas besser zu gehen mit den Kräften, doch fühle ich mich noch immer unzufrieden, matt und muthlos – Das wird erst besser werden, wenn ich einmal wieder || mit meinen Arbeiten einigermaßen à jour bin.

Statt mich kurz zu fassen, wie ich es wollte, habe ich Dir da eine lange Geschichte von Leiden und Quälereien, von resultatlosen Arbeiten u.s.w. vorgeklagt. Der Verlust meines Vaters trifft mich schwerer b und nachhaltiger, als ich gedacht hätte; meine nächste Familie beschäftigt mich viel und zieht mich von andern Arbeiten ab, meine Wohnung an den äußersten Grenzen der Stadt macht alle Geschäfte und Besuche in derselben sehr zeitraubend und täglich muß ich wenigstens eine Stunde nur für das Hin- und Herlaufen opfern.

5 Juli. Acht bis 14 Tage mögen verflossen sein, seit ich vorstehende Zeilen schrieb und es dürfte nunmehr Zeit werden sie nebst einigen Zusätzen abzuschicken. Ich bemerke zunächst daß Deine lieben Zeilen vom 21. v. M. es waren, die mir den ersten und nächsten Anlaß zum Schreiben geben. Seitdem habe ich nun einen neuen erwünschten Hausverwalter bekommen und gestern Dreier’s Hochzeit mitfeiern helfen. – Ich kann Dir so unrecht nicht geben, wenn Du es für wünschenswerth hältst, daß ich mir bald durch eine Gattin eine angenehmere Häuslichkeit gründe. Ich war auch längst entschlossen dazu, allein die Schicksale des vorigen Winters brachten mich natürlich auf andere Gedanken oder verdrängten wenigstens vorläufig alle derartigen Pläne. || Jetzt bin ich nicht mit mir einig – einerseits fürchte ich mich vor dem langen einsamen Winter c und habe auch keine Neigung den alten Ballschwindel wieder mitzumachen, andrerseits fühle ich mich körperlich und geistig zu sehr angegriffen und abgespannt um irgend einen gewandten Staatsstreich durchführen zu können, mittelst dessen ich einige liebenswürdige junge Mädchen ungestört in der Nähe kennen zud lernen und zue beobachten vermöchte. Da die auf Brautpaare fahndenden Neuigkeitsheischer mir sorgfältig aufpassen und mich mit allen Jungfrauen verlobt sagen, die ich einer Unterhaltung würdige, so werden natürlich alle meine niedlichen Bekannten bei meinem Anblicke sofort eingeschüchtert, wenn sie sich bemerkt glauben. Es gelingt daher in Gesellschaften sehr schwer sie unbefangen zu machen und es fällt mir daher auch gar nicht ein dies sonst so bequeme Mittel zu Bekanntschaften wieder benutzen zu wollen. – Doch genug davon – vorläufig hoffe ich in einigen Wochen auf kurze Zeit Ferien zu machen, hoffe mich durch ein wenig frische Luft wieder zu kräftigen und vertraue dann auf ein glückliches Geschick, welches mir, gut benutzt, eine brave Frau zuführt. Nach dieser Rechnung bekämst || Du noch im September meine Verlobungsanzeige, wenn Du dann schonf von Deiner Reise zurückgekehrt wärest. Doch – ernsthaft gesprochen – wenn ich auch nicht wirklich an die Genauigkeit dieses Exempels glaube, so wäre es mir wenigstens ganz recht, wenn sich meine Geschicke in derartiger Weise gestalten würden.

Deine Reisepläne haben für mich eine eigentümliche Anziehungskraft; es ist doch ein unschätzbarer Vorzug des akademischen Lebens Zeit zu solchen größeren Ausflügen zu haben. Wenn ich mich frei mache, so werde ich in der Nähe bleiben, da ich immer auf einen plötzlichen Ruf an die Anstalt oder zu meiner Familie gefaßt sein muß. Ich bereichere damit zugleich meine Kenntniß der Naturgeschichte unsres Küstenlandes, an welcher ich schon seit vielen Jahren in meinen Mußestunden studire.

In den nächsten Wochen wird Bremen durch das große Schützenfest in Aufregung versetzt werden. Wenn Du dazu kommen wolltest, würdest Du mir natürlich als lieber Gast herzlich willkommen sein; dazu einzuladen habe ich keinen Muth, weil ich weder Zeit noch Stimmung zu einer rechten Festfreude finden würde. Etwas wirklich Großartiges und Neues wird die || zahlreiche Betheiligung der Amerikaner an diesem Schützenfeste werden; die zahlreichen Beziehungen Bremens zu Amerika und seine lebhaften Sympathien für die jetzt siegreiche Sache des Nordens sichern ihnen hier eine begeisterte Aufnahme.

Zu wissenschaftlichen Arbeiten bin ich begreiflicher Weise gar nicht gekommen; kaum habe ich hier und da etwas Material zu möglicher späterer Verwendung aufgreifen können. Für Dich ist vielleicht Eins von besonderem Interesse. Wichura’s Arbeit über die Weidenbastarde, ein paar abgerissene Brombeerblüthen und ein paar Blicke in’s Mikroskop haben mich auf eine Frage hingewiesen, deren Beantwortung möglicher Weise von großer Wichtigkeit für die Begründung mancher Darwin’scher Ideen werden könnte. Es handelt sich nämlich darum zu ermitteln, welchen Einfluß die Gestalt und insbesondereg die Unregelmäßigkeit der Pollenkörner auf die Entwickelung und namentlich auf die Variabilität der von ihnen befruchteten Embryonen hat. Daran knüpft sich wieder die Frage nach der Ursache der unregelmäßigen Pollenbildungh; ob dieselben etwa || hybrider Abkunft oder, ganz im Allgemeinen, unvollständiger Accommodation ihren Ursprung verdankt. Von den bis jetzt untersuchten Brombeeren hatten nur zwei einen einigermaßen regelmäßigen Pollen. Es wäre sehr hübsch, wenn ich Zeit hätte derartige äußerst einfache Untersuchungen auch bei Hieracium, Euphrasia, Polygala, Rosa, Fragaria, den muthmaßlichen Hybriden u.s.w. vornehmen zu können.

Von uns scheint Dir Dreier kürzlich erzählt zu haben. Kottmeier ist nach Norwegen u. Schweden gereist um sich auf einige Wochen zu erfrischen. Naturgenuß erweist sich ja immer heilsam. Wenn es gut geht, so kommen wir hoffentlich im nächsten Jahre alle wieder einigermaßen in’s rechte Geleise. Dann mußt Du uns hier einmal besuchen; wir sind hier meistens ziemlich gebunden und können uns schwer frei machen. Aber wenn Du kommst, wird es schon gehen; dann kannst Du Rechtenfleth besuchen, unsre Marschen, Moore und Heiden kennen lernen und schließlich noch ein wenig Nordsee genießen. Dann erscheint Dir später das Mittelmeer um so schöner. – Zu Deinem Ordinariat meine besten Wünsche; aufi Deiner interessanten Reise reiche wissenschaftliche Ausbeute und viel Naturgenuß.

Mit herzlichem Gruße

in alter Freundschaft Dein W. O. Focke.

[Beilage]

Bremen, d. 12 Juni.

Inzwischen habe ich die Anstellung am Krankenhause wirklich erhalten und werde in etwa 14 Tagen antreten. Bis zum nächsten Frühjahr weißt Du mich also wohl auf-||gehoben. Das Beste an der Sache ist, daß es nicht lange dauert und daß ich an Dreier einen angenehmen Schicksalsgenossen habe. – Schicke uns doch nächstens per Wind etwas Regen. Uebrigens Lebewohl und antworte bald

Deinem F.

a gestr.: und; b gestr.: als; c gestr.: ,; d eingef. mit Einfügungszeichen: zu; e eingef. mit Einfügungszeichen: zu; f eingef. mit Einfügungszeichen: schon; g korr. aus: namentlich; h korr. aus: Pollenbildungen; i korr. aus: zu

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
06.07.1865
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1838
ID
1838