Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 14. November 1862
Bremen, d. 14ten Nov. 1862
Lieber Freund!
Vermuthlich bist Du schon etwa 4 Wochen wieder in Jena und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie gemüthlich sich dort Deine Häuslichkeit unter den Händen Deiner lieben Frau gestaltet. Nun Deine Einrichtungen im Wesentlichen geordnet sein werden und Du Deine Gefühle und Gedanken über Dein junges eheliches Leben mit d. nächsten Angehörigena ausgetauscht haben wirst, darf ich erwarten, daß auch ein Freundesgruß aus der Ferne willkommen sein wird. Schon seit mehreren Wochen hatte ich vor Dir zu schreiben, allein ich b zögerte immer länger in der Hoffnung eine ruhige Stunde zu finden. Ich kann keineswegs mit Recht über Mangel an Zeit klagen, wol aber über Zersplitterung derselben; ich finde wenigstens keine wirkliche Muße, in der ich meine Gedanken von den verschiedenartigen Beschäftigungen, an die ich gefesselt bin, ganz loslösen kann. Es wird mir daher schwer mich so wie ich möchte, recht ungestört und mit voller Seele in eine briefliche Unterhaltung zu vertiefen, ich muß vielmehr im-||mer gegen eine gewisse Zerstreutheit ankämpfen, die mich in der Richtung meiner bisherigen Beschäftigungen tangential von dem erstrebten Mittelpunkte meiner Gedanken forttreibt.
Mit besonderem Vergnügen erinnere ich mich meines Besuches in Berlin und der freundlichen Aufnahme, die ich bei allen den Deinigen gefunden habe. Es ist mir lieb mir ein Bild von Deiner Familie und Deinen Angehörigen machen zu können. Wir Bremer haben in unsern Sitten ziemlich viel von amerikanischer Formlosigkeit angenommen und haben daher meistens eine natürliche Antipathie gegen die Geselligkeit der Residenzen, in die doch immer etwas Hofluft und Hofton eindringt. Auf fremdem Boden muß unsre bürgerliche Einfachheit die Ueberlegenheit feinerer und gewandterer Umgangsformen oft in höherem Maße anerkennen, als unserm republikanischen Stolze gefallen will. So hatte ich mich auch darauf gefaßt gemacht ein Stückchen von dem „blasirten Berlin“ in Eure Kreise hereinragen zu sehen. Um so angenehmer fand ich mich enttäuscht, als ich zwar mehrfach abweichende Sitten antraf, aber doch einen so natürlichen und ungezwungenen Ton herrschend fand, daß ich gern zugestehe, wie wir || in vieler Beziehung weit formeller, schwerfälliger und selbstgefälliger sind. Gelegentlich bitte ich den Deinigen nochmals meinen warmen Dank für die genossene Güte auszusprechen, insbesondere auch meiner gastlichen Wirthin, Frln Sethe. Es wäre übrigens Unrecht, wenn ich nicht noch erwähnen wollte, wie viel die Liebenswürdigkeit Deiner berühmten Cousinen zu den Annehmlichkeiten Eures geselligen Kreises beitrug. Ich glaube es war für die Ruhe meines Herzens sehr wünschenswerth, daß ich das Vergnügen ihrer Bekanntschaft c oder vielmehr ihres Umganges nicht länger fortsetzen konnte.
Eure Reise ist hoffentlich recht schön ausgefallen; es muß köstlich sein so in unbeschränkter Freiheit mit einer lieben Frau in der herrlichen Natur umherzustreifen. Vielleicht darf ich den Wunsch aussprechen noch einmal ein klein wenig davon zu hören. Da ihr doch in Dresden anfangen wolltet, so habe ich mir erlaubt ein paar Erinnerungen an dortige Kunstschätze an Dich abzusenden in der Hoffnung, daß Du mitunter an einem traulichen Abende einen Blick darauf werfen und zugleich auch meiner freundlich gedenken mögest. Ich habe um der Zollverhältnisse willen den Weg der Versendung mittelst Buchhändlergele-||genheit der schnelleren Post vorgezogen und rechne darauf, daß jene vor etwa 3 Wochen abgesandten Blätter ungefähr gleichzeitig mit diesen Zeilen bei Dir eintreffen werden.
Kürzlich hatte ich das Vergnügen hier unerwartet einen alten Bekannten anzutreffen, nämlich Dein Radiolarienwerk. Ich freute mich dasselbe wieder durchblättern und meinen Schwestern die niedlichen Formen zeigen zu können. – Vor einiger Zeit habe ich auch endlich einmal die persönliche Bekanntschaft von Allmers gemacht, wenn auch vorläufig nur flüchtig. Ein alter Bekannter, der Holsteiner Detlefsen entdeckte mich hier im Künstlerverein und führte mich Allmers zu, mit dem er von Rom her genau befreundet ist. A. läßt sich übrigens jetzt selten in Bremen sehen, man sagt er hege Heirathsgedanken und nennt auch den Namen seiner Geliebten. Weil aber nichts Näheres über diese schon ziemlich alte Sage verlautet, so kann ich einige Zweifel über die Genauigkeit dieser Angaben nicht unterdrücken, besonders da gar nicht einzusehen ist, weshalb das nicht mehr ganz jugendliche Paar noch länger mit der Verbindung zögern sollte. ||
d. 16ten.
In Kürze muß ich doch noch Etwas von mir erzählen, obgleich im Grunde nicht Viel von mir zu berichten ist. Ich vegetire hier so gut es gehen will, laufe meinen Armendistrict ab, figurire auch zuweilen als Tänzer oder Schauspieler und bin im Uebrigen Privatgelehrter, mit botanisch-geognostisch-historisch-philologischen Forschungen beschäftigt. Natürlich werde ich auch allmälig Mitglied sämmtlicher Kneip-, Tanz-, Bummel-und wissenschaftlichen Vereine hiesiger Gegend und fange sogar an zuweilen Reden zu halten. Meine ärztliche Praxis hat nicht viel zu bedeuten, ist aber doch des Armendistrictes wegen groß genug um eigene naturhistorische Forschungen gründlich zu verhindern, wenigstens in dieser Jahreszeit, wo man die Abende nicht im Freien verwerthen kann. Unsere Gegend ist geognostisch unbekannt, was man wol sonst von wenigen Orten in Europa sagen kann. Für den Winter wäre eine Untersuchung der interessantesten Punkte eine vortreffliche Beschäftigung. Ich begnüge mich also noch immer mit dem historischen Studium der früheren Gestaltung der Gegend, insbesondere der Küste, eine Arbeit, die mancherlei andere Forschungen nach sich zieht. ||
Auch von Deinen hiesigen Bekannten weiß ich Nichts Merkwürdiges zu erzählen. Dem altehrwürdigen Institut des Junggesellenthums droht noch keiner abtrünnig zu werden. Die hiesigen Academicae, d.h. geschlossene Kneipvereine der Gelehrten, setzen meistens Strafen auf das Heirathen.
Hoffentlich findest Du bald einmal Gelegenheit mir Etwas von Dir, Deiner Frau, Deiner Häuslichkeit und dem Fortgange Deiner akademischen Laufbahn zu erzählen. Was treibst Du nun nach Vollendung Deines großen Werkes? Einen herzlichen Gruß zunächst an Deine Frau und dann auch an Bezold. Gerhardt wird sich meiner kaum noch erinnern. Sei überzeugt, daß ich Alles, was Du mir erzählst, mit lebhafter Theilnahme verfolgen werde. Es grüßt Dich
in alter Freundschaft
Dein W. O. Focke.
a eingef. mit Einfügungszeichen: mit d. nächsten Angehörigen; b gestr.: sch; c gestr.: nicht