Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 21. Juli 1862

Bremen, den 21/7 62

Mein theurer Freund!

Lange habe ich mich nicht über einen Brief so gefreut wie über den Deinigen! Also nimm zunächst meinen herzlichsten, innigsten Glückwunsch zu Deiner Professur und zu Deiner baldigen Vermählung! Du bist jetzt doch ein Mann in Amt und Würden und wenn man sich auch vorläufig noch das Vergnügen macht Dich als eine „außerordentliche“ Erscheinung in der Gelehrtenwelt zu betrachten, so wird man Dir doch binnen kurzer Frist die Anerkennung als ordentliches Mitglied der Facultät nicht mehr versagen können.

Dein Brief traf mich in den Vorbereitungen zu einer kleinen Reise: ich wollte eine Schwester aus Pyrmont abholen. Da dieser Entschluß plötzlich kam und ich aus verschiedenen Gründen diesen Ausflug so eilig wie möglich, in anderthalb Tagen, abmachen wollte, hatte ich vorher und nachher unerhört viel in meiner Praxis zu thun. Wie gewöhnlich in solchen Fällen, trafen noch einige besondere Umstände zusammen um mich noch mehr zu beschäftigen, || so daß ich nach vollbrachtem Tagewerk geistig und körperlich abgespannt und zu jeder Thätigkeit unfähig, nur der Ruhe pflegen konnte. Daher erkläre Dir mein Säumen in der Antwort: ich wollte Dir doch nicht allein ein Blatt Papier mit ein paar dürftigen Worten schicken; wenn ich auch in diesem Augenblick noch nicht Viel bieten kann, so ist es doch schon etwas mehr, als ich an den vorigen Tagen hätte geben können.

Deine herzliche, freundschaftliche Einladung zu Deiner Hochzeit weiß ich nur durch rücksichtslose Annahme der selben würdig zu beantworten. Ich kann mir die Freude nicht versagen Dich wiederzusehen und noch dazu bei dem herrlichen Feste Deiner Verehelichung, ich bin zugleich begierig Deine Gattin kennen zu lernen und hoffe endlich noch manche alte Freunde bei Dir zu treffen. Also ich komme! Kaum wage ich es zugleich das gastfreie Anerbieten mich in Deinem Hause einzuquartiren, anzunehmen, aber Deine Herzlichkeit macht es mir auch unmöglich es auszuschlagen – also ich nehme es dankbar an unter der Bedingung, daß Du über das mir zugedachte Logis frei verfügst, wenn Du irgend welchen Gebrauch davon machen kannst. Ich freue mich sehr auf die Tage unseres Beisammenseins, ich hatte schon darauf verzichtet in diesem Sommer noch || eine wahrhafte Erholungsreise zu machen. Nur ist es mir sehr zweifelhaft, ob ich die ganze Woche von hier fortbleiben kann, wahrscheinlich werde ich meinen Aufenthalt in Berlin auf 3 oder 4 Tage beschränken müssen. Endlich denke ich noch daran, daß ich als Arzt mehr noch wiea die meisten andern Menschen, von Zufälligkeiten abhängig bin, die meine Pläne kreuzen könnten – so viel wie möglich will ich indeß alle etwaigen Hindernisse zu beseitigen suchen.

Dieselben Umstände, welche mich selbst am Schreiben hinderten, haben mich auch abgehalten die Einlage an Allmers abzuschicken. Da Du selbst keine Adresse bei gefügt und nichts Näheres darüber geschrieben hast, wollte ich mich hier erkundigen, ob er sich zu Hause oder etwa auf Reisen aufhalte. Der Ferien wegen sind aber mehrere seiner genauesten Freunde selbst verreist und so habe ich bei meiner beschränkten Zeit bisher noch keine ganz sichere Kunde erhalten, die ich indeß heute Abend erwarten darf. Ich habe seine Bekanntschaft bisher noch nicht gemacht, indem ich niemals erfuhr wann er gerade hier war. Auch bin ich selbst in Bremen noch ziemlich unbekannt, denn ich bin erst seit etwa 3/4 Jahren hier ansässig. Während ich in der Nähe der || Stadt auf dem Lande lebte hatte ich höchstens Gelegenheit meinen Verkehr mit der Familie und einigen wenigen Freunden fortzusetzen. Ein Ausflug nach Rechtenfleth läßt sich, der unvollkommenen Dampfschiffverbindung wegen, nicht in einem Nachmittage bewerkstelligen, und ein ganzer Tag kann von einem „praktischen Arzte“ immer nur sehr schwer geopfert werden.

Seit drei Vierteljahren bin ich endlich dem Schicksale anheimgefallen, gegen welches ich seit meiner Abreise aus Berlin fortwährend angekämpft habe: ich bin practischer Arzt in Bremen geworden. Da ich bei meiner Niederlassung der Anciennetät nach nicht mehr b der c jüngste College war, hatte ich das Glück bald Armenarzt zu werden – ein freilich etwas zweideutiges Glück, denn, wenn man auch eine Berufsthätigkeit wünscht, so schneidet es doch die Möglichkeit ab einen größeren Theil seiner Zeit auf rein wissenschaftliche Studien zu verwenden, denn die practische Medizin verdient doch sicherlich nicht den Namen einer Wissenschaft. Als jüngster Armenarzt bekommt man natürlich den schlechtesten District, in dem entsetzlich viel Arbeit ist und in dem die Hefe des Gesindels sich herumtreibt. Säufer und Säuferinnen, Tagediebe, ausgelebte Huren und deren Brut, atrophisches und scrofulöses Gesindel liefern das größte Contingent meiner Kranken. ||

Unsere leiblich und sittlich, seit dem Ausbruche des amerikanischen Krieges auch materiell verkommene Cigarrenfabrikbevölkerung bildet die Masse des Proletariats, das meiner Behandlung übergeben ist. Dank erntet man dabei natürlich sehr wenig, dagegen muß man es aus dem Grunde verstehen kräftig zu schimpfen, wenn man den Unverschämtheiten des souveränen Pöbels nachdrücklich entgegentreten will. Als jüngster Armenarzt hat man hier viel zu thun und wenig Lohn dafür. Meine übrige Praxis ist noch sehr gering, im embryonalen Zustande begriffen, Einiges habe ich noch von früher her auf dem Lande zu thun. Meine Eltern wohnen jetzt im Sommer etwa 5/4 Stunden von meinem Hause auf dem Lande, öfter als 1 bis 2 Mal wöchentlich komme ich aber nicht hinaus, da ich meist zu Fuß gehen muß und nur selten den elterlichen Wagen oder die Eisenbahn benutzen kann.

Die Botanik habe ich noch nicht ganz aufgegeben und die Abends um 5 oder 6 Uhr abgehenden letzten Omnibus und Bahnzüge benutze ich manchmal zu kurzen Partien in die Umgebungen Bremen’s. Ich habe mich mit Dreier und Buchenau einem hiesigen Lehrer und Fachbotaniker, vereinigt ein Herbarium der einheimischen Flora zu sammeln, und es ist damit in diesem Sommer ein ganz netter Anfang gemacht. Speciell beschäftige ich mich || wieder mit den Brombeeren, ein Studium, welches ich schon zu verschiedenen Malen mit Eifer betrieben habe. Trotz allem Widerstreben sehe ich mich genöthigt immer mehr Arten anzuerkennen, jetzt bin ich schon zu der Zahl 9 gelangt, lauter Species, die ich genau aus eigner Untersuchung im Freien kenne, und zweifle nicht, daß es in Deutschland noch mehr geben wird. Hier in der Ebene wachsen freilich meines Wissens nur 7.

Außer meiner neulichen Eilfahrt nach Pyrmont habe ich kürzlichd einmal auf drei Tage das Nest verlassen, blieb indeß bei dem schlechten Wetter in der Nähe und habe mir unter Anderm den preußischen Jadebusen angesehen. Vielleicht kannst Du mir Anleitung geben wie ich es anzufangen habe mich bei einem ähnlichen Ausfluge durch Einfangen von Meergeschöpfen nützlich zu machen; oder producirt etwa unsre barbarische, brutale Nordsee keine Bestien, welche sich für höhere Zoologie eignen? Ich bedaure sehr, daß Dein Radiolarienwerk so kostspielig wird, denn andernfalls würde ich nicht säumen meine Bibliothek damit zu zieren. Aber bis meine Praxis mir die Mittel zu solchem Luxus liefert, wird noch mancher Tropfen Weserwasser bei der guten Stadt Bremen vorbei-||rinnen.

Im April v. J. war ich einmal auf einen Tag in Jena ohne zu wissen, daß Du Dich schon dort habilitirt hattest. Der Ferien wegen traf ich keinen Bekannten dort, auch Bezold war Tags zuvor abgereist. Indeß fragte ich verschiedentlich, ob sich nicht ein gewisser Dr. Häckel als Privatdocent dort gezeigt habe, erhielt indeß die Antwort, daß ein solcher Mann in Jena gänzlich unbekannt sei. Vermuthlich warst Du damals wol der Ferien wegen zu Hause und ich würde Dich doch nicht getroffen haben. Jetzt wirst Du freilich bestens in Jena bekannt sein; wenn ich nun wieder dahin kommen sollte, besuche ich Dich in Deiner Häuslichkeit an der Seite Deines Weibes – hoffentlich dauert es nicht so lange mit meiner Reise, daß ich Dich mit Weib und Kind besuchen kann.

Strube ist augenblicklich auf Reisen begriffen und begegnet Dir vielleicht einmal irgendwo, die andern Bekannten haben mit großer Theilnahme von Deinem Glück gehört und gratuliren Dir recht herzlich. Von ihnen wird wol Niemand grade im August nach Berlin kommen. An Allmers werde ich noch heute Abend schreiben und auf Grund Deines Schreibens die Bekanntschaft mit || ihm anknüpfen. Vielleicht trifft es sich, daß wir zusammen reisen, doch will ich ihn nicht aufhalten, wenn er eher zu Dir eilen will, als ich fortkommen kann. Die Reise nach Berlin dauert ja auch nur eine Nacht, freilich eine recht langweilige, während welcher man einen interessanten Begleiter recht gern hat.

So viel vorläufig von mir und meinem gegenwärtigen Leben, das jetzt in das Stadium des philiströsen Junggesellenthums oder des junggeselligen Philisteriums getreten ist. Vom Hafen der Ehe bin ich noch sehr – sehr weit entfernt und kann auch noch lange nicht an ernsthafte Brautschau denken, obgleich ich zuweilen nach anstrengender Thätigkeit eine Häuslichkeit recht vermisse. Ich empfinde Dies um so mehr, als ich während der Zeit die ich auf dem Lande zubrachte, zwar keine geliebte Gattin, aber doch eine Art von eigener gemüthlicher Häuslichkeit hatte. Davon ist jetzt nicht die Rede.

Jedenfalls freue ich mich aber Deiner Fortschritte auf der Bahn zu einem erfolgreichen Wirkungskreise und einem beglückenden Familienleben und hoffe bei meiner Anwesenheit in Berlin Gelegenheit zu haben Dein Glück noch mehr zu ermessen, indem ich Deine zukünftige Gattin kennen lerne. Auf ein frohes Wiedersehen!

In alter treuer Freundschaft

Dein W.O. Focke.

a korr. aus: als; b gestr.: einer; c gestr.: alle; d korr. aus: neulich

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
21.07.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1834
ID
1834