Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Oberneuland, 2. – 4. Mai 1860

Oberneuland d. 2/5 60.

Lieber Freund!

In der Erwartung, daß Dich diese Zeilen wieder in Berlin treffen werden, will ich es versuchen unsern unterbrochenen Briefwechsel wieder anzuknüpfen. Ich denke mir, daß Du Dich in den weichen Armen und der sorgsamen Pflege von Mutter und Braut schon einigermaßen von den Strapatzen der Reise erholt haben wirst und daß das erste Stadium der Acclimatisation schon hinter Dir liegt, nämlich der großartige Mauserungsprozeß, durch welchen die Metamorphose eines naturforschenden Vagabunden in einen Berliner Culturjüngling bewerkstelligt wird. Vermuthlich bist Du nun außerordentlich in Anspruch genommen sowohl von liebenden und wißbegierigen Seelen, als auch von Deinen eigenen Entdeckungen, und so habe ich denn vielleicht nicht allzu viel Aussicht meine Anforderungen bald befriedigt zu sehen. Daher || sehe ich mich genöthigt durch Androhung von Gewaltthätigkeiten einen freundschaftlichen Brief von Dir zu erpressen. Wenn ich also nicht binnen 14 Tagen ein ausführliches Schreiben von Dir erhalte, so werde ich ein Executionsverfahren über Dich verhängen und Dir demgemäß meine gesammte Mannschaft, bestehend aus meiner eigenen Person, sobald sie disponibel geworden, in Form eines Straffocke als Einquartirung zuweisen. Also! –

Wenn ich mir nun ausmale, wie die Leute Dich bestürmen, so fällt mir insbesondere auch bei, wie wünschenswerth Deine Bekanntschaft in gegenwärtiger Zeit für demokratische Zeitungsschreiber sein muß, damit sie ihre Lügen über den sicilianischen Aufstand mit interessanten Schilderungen der Zustände und Sitten auf jener Insel ausstaffiren können. Wenn nicht zu viel Zeit damit verloren ginge, könnte ich Dir leicht anschaulich machen, wie vortrefflich ich mich zum Director || des höheren Blödsinns eigne, welchen Posten ich gegenwärtig bekleide. Es wird Dir nun wol nichts Anderes übrig bleiben, als es mir auf‘s Worta zu glauben, widrigenfalls ich wiederum zu Gewaltmaßregeln zu greifen genöthigt wäre. Du siehst, ich bin kein Anhänger des No-restraint-Systems in der Psychiatrie.

Um Neujahr 1859 hatte ich die Absicht Dir noch einmal vor Deiner Abreise zu schreiben. Krankheit und Geschäfte hinderten mich daran. Anfang April vorigen Jahres hatte ich Gelegenheit meine Assistenzarztstelle aufzugeben und beabsichtige eigentlich, da ich die medizinische Praxis längst satt hatte, ein anderes Fach zu meinem Berufe zu erwählen. Ich dachte zunächst an die Chemie, wurde aber von verschiedenen Seite so eindringlich vor diesem überfüllten Fache gewarnt, daß ich in den nächsten Wochen noch zu keinem festen Entschlüsse kam. Da wurde ich veranlaßt, die Leitung der Irrenanstalt Hodenberg auf einige Zeit zu übernehmen. Du erinnerst Dich wol || noch Engelken’s, der im Sommer 1856 mit uns in Würzburg war. Dieser hatte nach dem plötzlichen Tode seines Vaters Mai 1858 die von diesem geleitete Anstalt übernommen. Im Laufe des nächsten Sommers und namentlich des Winters hatte sich nun bei ihm eine Lungen- u. Kehlkopftuberkulose entwickelt, die ihn endlich gerade damals als ich frei war, zu seinem Berufe gänzlich unfähig machte. Ich trat nun für ihn ein, er reiste nach der Schweiz, wo er denn im vergangenen Februar seinen Leiden erlegen ist. Da in der Familie kein Arzt mehr vorhanden ist, so soll die Anstalt nun mehr verkauft werden. Bis dahin bleibe ich hier. Es ist jetzt gerade ein Jahr verflossen, seit ich hier eintrat; meine Functionen sind ziemlich mannichfaltig, denn außer der Leitung der Anstalt, die während dieser Zeitb 25–33 Kranke zählte, liegt mir die Verwaltung der zugehörigen Ländereien, die ärztliche Landpraxis in der Umgebung und die Besorgung einer Apotheke ob. Im Ganzen genommen habe ich aber doch nicht so sehr viel zu thun und kann nebenbei Mancherlei nach meiner Liebhaberei treiben. || Doch ist meine Zeit viel zu sehr zersplittert, als daß ich dazu käme etwas Zusammenhängendes vor zunehmen. Mein Aufenthaltsort liegt nur zwei Stunden von Bremen in einer niedrigen sandigen Gegend mit viel Eichengehölz. In der Richtung von Bremen weg (östlich) breitet sich ein niedriges, von zahlreichen Armen eines kleinen Flusses und vielen Canälen durchschnittenes weites Wiesenland aus, welches Ausflüge in dieser Richtung fast vollständig c unmöglich macht. Auch zu Schiff kommt man hier nur langsam vorwärts. In botanische Hinsicht zeichnet sich die hiesige Gegend durch Reichthum der Gattungen Potamogeton und Carex aus, die um Bremen an der Weser so mannichfaltig vertretene Gattung Salix ist hier ziemlich arm. In medizinischer Hinsicht ist diesen Verhältnissen entsprechend Intermittens und Remittens vorherrschend. Den Sommer über und möglicherweise noch einen Theil des Winters werde ich hier bleiben und dann || beabsichtige ich noch einmal auf deutsche Hochschulen zurückzukehren.

Von unseren gemeinsamen Bekannten weiß ich Dir aus meiner hiesigen Abgeschiedenheit wenig zu erzählen. Beckmann’s Tod wirst Du recht tief bedauert haben. Krabbe hat seit vorigen Herbst Nichts von sich hören lassen. Dreier ist nach 2 jähriger Assistenz am Bremer Krankenhause im vorigen Winter wieder nach Berlin und Tübingen gegangen und fungirt augenblicklich als provisorischer Assistent an der Tübinger Klinik. Kottmeier langweilt sich als praktischer Arzt in Bremen. Strube ist oben drauf, hat riesig viel zu thun die Praxis ist sein rechtes Lebenselement, worin er sich mit außerordentlichem Glück und Geschick bewegt (Dat Galenus opes!). Von allen Andern weißt Du unstreitig mehr als ich. ||

Während ich die Absicht habe mein bisheriges unstetes Leben noch so lange fortzusetzen, wirst Du wol an die Vorbereitungen zur Begründung einer Häuslichkeit nebst europäischer Berühmtheit denken.

4 Mai

Während von meinem bisherigem Leben im Grunde nicht allzu viel zu berichten war, wenn man nicht in die kleinsten Details eingehen will, so hoffe ich von Dir desto mehr zu erfahren. Wenn ich mir nicht zuweilen meinen Weg von Bremen hieher durch Benutzung einer kleinen Strecke Eisenbahn etwas abkürzte, würde ich ganz vergessen wie es auf der Eisenbahn zuginge. Für gewöhnlich habe ich übrigens beiläufig gesagt, eine eigene Equipage zur Benutzung. Wenn Du Deine Botanik noch nicht ganz hast liegen lassen und gern einige Wasser- Sumpf- u. Moorpflanzen von mir haben willst, so bin ich gern bereit dazu Dir dergleigleichen zu sammeln. Carex chordorrhiza, C. cespitosa (Drejeri), C. limosa, C filiformis, Scirpus fluitans, Rhynehospora fusca, Alisma ranunculoides, A. natans, Myriophyllum alterniflorum, || Sparganium minimum, Potamogeton acutifolius, P. mucronatus, Calla palustris, Malaxis paludosa, Corydalis claviculata, Helosciadium inundatum, Cineraria palustris, Senecio paludosus, Cicendia filiformis, Centunculus minimus, Scutellaria hastifolia, Draba verna, Stellaria media etc. wachsen hier, z. Th. sogar sehr häufig. Cotula coronopifolia habe ich noch vergessen. Ueber die Thierwelt kann ich Dir wenig Aufschluß geben und weiß Dir außer Regenwürmern, Krähen und Elstern Nichts anzubieten.

Somit will ich denn heute schließen und der Dinge harren, die da kommen sollen. Ich bitte mich Deinen Eltern bestens zu empfehlen und alle Freunde die Du sehen solltest herzlich zu grüßen.

Es grüßt Dich in alter Freundschaft

Dein W.O. Focke

Addr. Gut Hodenberg zu

Oberneuland bei

Bremen.

a eingef.: mir auf’s Wort; b eingef.: während dieser Zeit; c gestr.: abschneidet

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
04.05.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1831
ID
1831