Tille, Alexander

Alexander Tille an Ernst Haeckel, Kessenich bei Bonn, 12. Juni 1896

DR. ALEXANDER TILLE

DOCENT AN DER UNIVERSITÄT GLASGOW

KESSENICH BEI BONN

LUISENSTRASSE 29

d. 12. Juni 1896

Hochverehrter Herr Professor!

Nach anderthalbjährigem ununterbrochenem Aufenthalte im Auslande bin ich endlich wieder einmal zu Besuch nach Deutschland gekommen, und zwar mit einem wichtigen Plane. Im Laufe der letzten beiden Jahre hat sich mein Arbeitsfeld so stark von Sprachgeschichte und Literaturgeschichte hinweg verschoben, daß ich mich entschieden habe, in die Philosophie überzutreten. Weltanschauungsgeschichte, Entwicklungsethik, Volksstandswirtschaft, sie alle lassen sich zur Not, solange sich noch keine weitere Arbeitsteilung vollzogen hat, unter Philosophie zusammenfassen, und in jedem Falle ist es ja wohl das Richtige, an die bestehende Ar-||beitsteilung anzuknüpfen. Der richtigste Weg ist wohl, wenn ich mich noch einmal an einer deutschen Universität für Philosophie habilitiere. Dann wird sich ja zeigen, ob ich darin vorwärts komme. Wie bald sich das durchsetzen lassen wird, ist augenblicklich noch nicht mit Sicherheit zu sagen. Denn ich bin ja jetzt noch völlig von meinem schottischen Einkommen abhängig. Indessen, da wird sich schon ein Ausweg finden. Ganz leicht ist mir der Entschluß nicht geworden; denn ich gebe damit immerhin viel Liebes auf. Andererseits wird mich die Weltanschauungsgeschichte auf dem Felde der Literatur und des Volksglaubens und für weiter zurückliegende Perioden auch mit der Sprachgeschichte in enger Fühlung halten, und Gegenstände wie Sagenentwicklung und Problemgeschichte fallen auch unter die Herrschaft des neuen Arbeitsreiches. Und daß ich auf den Feldern der geschichtlichen Grammatik und Literatur einige Spezialkenntnisse habe, wird mir sicher nicht schaden. ||

Es ist so ungefähr ein Schritt wie der Ihre von der Medizin zur Naturwissenschaft, oder der Benders hier von der Theologie zur Philosophie; nur daß letzterer ja kein ganz freiwilliger war.

Einstweilen bleibt mein Sitz und Amt natürlich noch in Schottland, aber ich hoffe, daß es mir doch in einem Jahre oder in wenig längerer Frist gelingen wird, nach Deutschland zurückzusiedeln.

Am liebsten wäre mir eine Habilitation in Berlin, da sie mir ein finanzielles Auskommen am ehesten sichern würde. Ob sichs aber bei der dort herrschenden Richtung durchsetzen lassen wird, ist eine andere Frage.

Wie Sie sehen, stehe ich weit entfernt von dem Gedanken an eine germanistische Professur. Und seltsamerweise ist es gerade der Gedanke gewesen, daß es mir doch möglicherweise gelingen könnte, an Kaufmanns Stelle nach Jena zu kommen, was mir die Sachlage in mir selber zum Bewußtsein gebracht hat. Bis dahin hatte ich immer die Germanistik, die ich amtlich vertrat, als mein eigentliches Arbeitsfeld, und alles andere mehr als Liebhaberei || betrachtet, so ernst mirs auch damit war.

Jetzt wundere ich mich fast, daß ich nicht eher daran gedacht habe, mich der Philosophie ganz zu widmen. Aber vielleicht hat das seinen Grund darin, daß ich von dem Begriff Philosophie eine von der herrschenden wesentlich abweichende Auffassung habe. Indessen dieser herrschende Begriff ist ja kein Dogma, auf das man sich verpflichten muß, und ich glaube, wohl mit gutem Grunde, daß Ihre Anschauung davon von der herrschenden kaum weniger abweicht.

Eigentlich wollte ich Ihnen nur einen herzlichen Gruß von deutschem Boden senden. Nun ist aber eine ganze Augsburgsche Konfession geworden. Ich bin hier bei meinen Eltern, die bei der Emeritierung meines Vaters nach Bonn übergesiedelt sind, wo mein jüngster Bruder als Herausgeber der Archivberichte und rheinischen Urbare von der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde angestellt ist.

Ich glaube, daß Preussen unmittelbar vor einem Umschwung zugunsten des Darwinismus steht, freilich nicht aus freiem Willen, sondern der Not gehorchend. Man scheint allgemach || zu der Einsicht zu kommen, daß die Entwicklungslehre noch die einzige zuverlässige Waffe gegen den Sozialismus ist, und daß das vielgespriesene Kirchentum der Sozialdemokratie nur den Boden bereitet, mit der es ja grundsätzlich so ungefähr auf denselben Voraussetzungen steht. Das berüchtigte Stummsche Kaisertelegramm gegen die Christlichsozialen hat damit ebenfalls zu thun. So taktlos seine Veröffentlichung ist, so bezeichnend ist es doch selbst als Absage an eine Richtung, die man bisher mindestens hatte gewähren lassen, früher sogar in Stöckers Person gepflegt hätte.

Hier soll der naturwissenschaftliche Unterricht in den Gymnasien erfolgen und vermehrt werden! Ist das wohl erhört? Eben hat ein Ministerialkommissar hier alle höheren Schulen zu diesem Zwecke revidirt. So rasch wird’s freilich nicht gehen. Immerhin aber kann in fünf Jahren mancher || Fortschritt erfolgen.

Mit herzlichem Gruß

in aufrichtiger Verehrung

Ihr

Dr. Alexander Tille.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
12.06.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 18280
ID
18280