Tille, Alexander

Alexander Tille an Ernst Haeckel, Glasgow, 24. Mai 1895

GLASGOW GOETHE SOCIETY.

11 Strathmore Gardens,

Hillhead,

Glasgow,

24.5.95.

Hochverehrter Herr Professor!

Endlich ist mein neues Buch fertig gestellt und ich kann es Ihnen von Leipzig aus zugehen lassen. Es nennt sich Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik und behandelt die Vorgeschichte der geistigen Bewegung auf dem Gebiete der Ethik, der mein „Volksdienst“ angehört, in wissenschaftlicher Form. Eine ähnliche Darstellung hoffe ich, noch ehe zwei Jahre vergehen, auch von der Beeinflussung der Sozialwissenschaft durch die Entwicklungslehre zu geben. Ein paar kleinere Stücke aus dem Buche kennen Sie ja schon aus der Zukunft, aber ich denke, noch mancherlei || darinnen wird Ihnen interessant sein.

Es scheint Ihnen vielleicht seltsam, daß der Inhaber eines germanistischen Lehrstuhles sich in diesem Maße mit Ethik beschäftigt hat; aber es ist schließlich nicht so wunderbar. Ich habe, da ich mich für keines der beiden Fächer entscheiden konnte, Germanistik und Philosophie studiert, und erst jetzt wird mir es immer deutlicher, daß das, was mich über Alles interessiert, in der Mitte liegt zwischen beiden; es ist nämlich die Entwicklung der allgemeinen Weltanschauung. Über kurz oder lang hoffe ich die paar Arbeiter auf diesem Gebiete – es sind leider nur sehr wenige – um mich zu sammeln und dieser Wissenschaft ein eigenes Organ zu gründen in einer wissenschaftlichen Vierteljahrschrift. Wahrscheinlich hat der Umstand, daß ich infolge der persönlichen Empfehlung meines Lehrers Zarnik mit 24 Jahren hierherberufen wurde, meinen Gesichtskreis wesentlich erweitert, indem er mich mitten in fremde Anschauungen hinein versetzte. Mein neues Buch wäre ja ohne einen || solchen längeren Aufenthalt in Großbritannien und die intime Beziehung mit seinen geistigen Strömungen gar nicht möglich gewesen. Aber in vieler anderer Hinsicht, namentlich bezüglich der wissenschaftlichen Arbeit, empfinde ich doch die mit einer hiesigen Universitätsstellung verbundene Isolierung oft genug schmerzlich. Vielleicht kommt noch einmal die Zeit, wo sich mir die Gelegenheit bietet, an eine deutsche Universität zurück zu kommen, sei es für deutsche Sprache und Literatur, sei es für Philosophie. Lehrstühle für Weltanschauungsgeschichte gibt es ja einstweilen noch nicht und wird’s trotz des Durchfallens der Umsturzvorlage wohl auch noch geraume Zeit nicht geben. Weltanschauungsgeschichte ist eine sehr gefährliche Wissenschaft, beinahe so staatsgefährlich wie die Entwicklungslehre.

Was die deutsche Fachethik zu einem so ketzerischen Buche sagen wird, das sich einbildet, die Ethik könne durch die Entwicklungslehre beeinflußt werden, darauf bin ich gespannt. Aber das Vorhandensein der ganzen Richtung läßt sich doch nicht mehr verleugnen.

Einen herzlichen Gruß an die deutsche Wissenschaft!

Mit aufrichtiger Verehrung

Ihr

ergebenster

Dr. Alexander Tille.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
24.05.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 18274
ID
18274