Moriz Ring (Redaktion der Oesterreichischen Volks-Zeitung) an Ernst Haeckel, Wien, 4. Dezember 1901
Wien, 4. December 1901.
Euer Hochwolgeboren
Sehr verehrter Herr Professor!
Trotz der ungeheuren Ausdehnung der internationalen Verkehrsmittel hat die nationale Idee von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zugenommen u. die Gebildeten der grossen Culturvölker bekennen sich zumeist zum nationalen Gedanken. Speciell in Oesterreich, als einem von verschiedenen Volksstämmen bewohnten Staate, zeigt sich der Einfluss des Nationalismus am stärksten. Im geistigen Leben der Völker wirken aber auch die anderen sittlichen und culturellen Ideale fort, zu denen sich in den letzten Decenien auch die socialen gesellt haben. Ein lebhafter Kampf der Geister ist entbrannt, die einzelnen Ideale, verkörpert in mächtigen politischen Parteien, kämpfen um die Vorherrschaft. Als ältestes politisches Tagblatt in einem Reiche, in dem dieser Kampf der Geister die Oeffentlichkeit besonders stark bewegt, sei es uns gestattet, an die hervorragendsten Zeitgenossen aller Länder nachstehende Frage mit der Bitte um gütige Beantwortung derselben zu richten:
Welchen Einfluss nimmt nach Ihrer Meinung die Ausbreitung der nationalen Idee auf die culturelle und sociale Entwicklung der Menschheit?
Wir beabsichtigen, die eingelangten Antworten in unserer Weihnachts-|| spätestens Neujahrsnummer zu veröffentlichen und fügen deshalb unserer Bitte auch das Ersuchen bei, uns, wo möglich, bis 15. December d. J. Ihre Ansicht gütigst zukommen zu lassen.
Es würde von uns und von der Oeffentlichkeit als eine bedauerliche Lücke empfunden werden, wenn in dem Bilde, das wir über dieses Problem entrollen wollen und das die Meinung der auserlesensten Geister der Gegenwart darstellen soll, die Ansicht [Textlücke] fehlen würde.
Wir danken im Vorhinein für Ihre Liebenswürdigkeit und zeichnen mit dem Ausdrucke ausgezeichneter Hochachtung
die Redaction der
„Oesterr. Volks-Zeitung”
M. Ring
Sr. Hochwolgeboren
Herrn Professor Ernst Häckel
Jena