Max Verworn an Ernst Haeckel, Göttingen, 15. Februar 1910
Göttingen 15.II.10.
Hochverehrter Herr Professor!
Es drängt mich heute mehr als in normalen Jahren, Ihnen meine allerherzlichsten Glückwünsche für das kommende Jahr zum Ausdruck zu bringen, nachdem das verflossene Lebensjahr Ihnen mancherlei so herben Kummer gebracht hat, wie ich ihn nicht für möglich gehalten hätte. Möchte das kommende Lebensjahr reichlich wieder gut machen, was das vergangene Hässliches gebracht hat, und möchte es Ihnen helfen, ganz über das || Unerquickliche hinwegzukommen, so dass Ihre alten Schüler und Freunde Sie wieder mit dem gleichen guten Humor und dem gleichen Frohsinn ins Lebensgetriebe blicken sehen, wie in früheren Jahren! Das wünsche ich Ihnen zugleich im Namen meiner Frau von ganzem Herzen.
Meine Frau ist leider seit unserem letzten Besuch in Jena garnicht recht in Ordnung gewesen. Gleich nach unserer Rückkehr im Herbst hat sich eine acute Überanstrengung des Herzens bemerkbar gemacht, die sie sich bei ihrer übertriebenen Gartenarbeit zugezogen hat, und seitdem hat sie andauernd mit ihrem Herzen zu thun, obwohl ihr Zustand sich sehr gebessert hat und sie sich sonst sehr wohl fühlt. || So war es nöthig, dass sie um absolute Ruhe zu haben einige Wochen in die hiesige Privatklinik ging, aus der sie erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt ist. Da wir im October nach Amerika wollen, muss sie sich inzwischen wieder vollständig erholen.
Ich fürchte, dass ich in diesem Jahre meinen üblichen Jenenser Besuch nicht werde ausführen können, denn ich sitze mit meinen Vorlesungen für Amerika sehr in der Klemme. Die Vorlesungen, die über „Irritabilität“ handeln, müssen druckfertig sein, wenn ich sie halte und sollen dann gleich in Englischer Sprache in Buchform erscheinen. Das erfordert für uns beide viel Arbeit. Daneben laufen noch die Institutsarbeiten, || die augenblicklich viel Zeit kosten, da ich in diesem Semester mehr Herren im Institut habe, die selbstständige Instituts-Arbeiten machen, als früher. Indessen diese experimentellen Arbeiten machen doch das meiste Vergnügen und ich bin froh, dass wir in Bezug auf die Physiologie des Nervensystems doch einen sehr beträchtlichen Schritt über die alte traditionelle Nervenphysiologie der Du-Bois-Reymondschen Zeit dank unserer allgemein- und vergleichend-physiologischen Gesichtspunkte hinausgekommen sind.
Aber genug von mir. Indem ich Ihnen und den Ihrigen recht gute Gesundheit und immer nur Freudiges wünsche bleibe ich in alter Treue
Ihr ergebenster
Max Verworn.