Max Verworn an Ernst Haeckel, Göttingen, 15. Februar 1905
Göttingen 15.II.05.
Hochverehrter Herr Professor!
Die herzlichsten Glückwünsche zum neuen Lebensjahre sende ich Ihnen zugleich im Namen meiner Frau. Möchten meine Zeilen Sie über ein Jahr wieder ebenso frisch und munter finden wie in diesem Jahre. Ich hoffe Sie in einigen Wochen in Jena selbst begrüssen zu können und sehne mich des Semesters entsetzlich müde, schon täglich nach den schönen Stunden, die ich in der 2ten oder 3ten Märzwoche in Jena zu verleben gedenke. ||
Hoffentlich sind Sie dann dort. Ich muss mich von Göttingen mal wieder in Jenenser Luft und „akademischer Freiheit“, die es ja in Preussen „nicht giebt“, auffrischen und vollsaugen. Übrigens haben die Göttinger Studenten doch auch ganz tapfer gegen alle Beschränkung der akademischen Freiheit protestiert und das hat mich von ihnen gefreut. Ich glaube dieser Schlag ins Wasser hat die Wühlarbeit der schwarzen Schleicher auf einige Jahre hinaus unwirksam gemacht. Es konnte garnicht besser kommen, und wenn es in einigen Jahren dann weiter geht mit der Unter- || drückung der akademischen Freiheit, dann können wir ja immer noch ins heilige Russland auswandern, nach Petersburg.
In diesem Semester habe ich zum ersten Male ein Colleg gelesen über „Urgeschichte des Menschen“ und habe gesehen, dass hier ziemlich grosses Interesse dafür war. Ich hoffe dieses Colleg nun alle Winter zu lesen und immer mehr auszubauen. Bei dieser Gelegenheit hätte ich gern einen Abguss des Pithekanthropos-Schädel gehabt, weiss aber nicht, von wem man einen solchen beziehen kann. Ich erinnere mich aber, dass Sie einen Abguss besitzen und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir gelegent- || [lich] mittheilen könnten, woher er stammt.
Über Klaatschs und Schötensachs Theorien hoffe ich im März mit Ihnen plaudern zu können. Ich kann mich mit Klaatschs Anschauungen nicht recht befreunden. Augenblicklich beschäftigt mich gerade das Problem der Entwicklung des aufrechten Ganges. Da scheint mir Klaatsch völlig daneben gehauen zu haben.
Mit der Bitte um viele Grüsse an alle Jenenser Freunde und vor allem um beste Empfehlungen an Ihre verehrte Frau Gemahlin, die sich hoffentlich recht wohl befindet bleibe ich in alter Verehrung
Ihr getreuer
Max Veworn.