Max Verworn an Ernst Haeckel, Göttingen, 31. Dezember 1904
Göttingen 31.XII.04.
Hochverehrter Herr Professor!
Zunächst die herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahre von mir und meiner Frau! Möchte 1905 Sie in alter Frische und Gesundheit sehen und Ihnen die gewohnte Arbeitsfreude bewahren wie alle seine Vorgänger!
Sodann noch nachträglich vielen Dank für die „Lebenswunder“, die ich bei meiner Rückkehr von Amerika hier vorfand. Ich habe mich gefreut, dass Sie doch nicht mit den „Welträthseln“ nicht den ange- || kündigten Schluss gemacht haben und hoffe, dass auch die „Lebenswunder“ noch verschiedene Nachfolger erhalten werden. Sie sind ja doch wie kein Anderer dazu berufen, unsere Generation zu klaren, naturwissenschaftlichen, von Mystik freien Anschauungen zu erziehen. Die „Lebenswunder“ haben mir das wieder ebenso deutlich gezeigt, wie seiner Zeit die „Welträthsel“ und ich wünsche daher auch diesem Buche im Sinne der uns allen so sehr am Herzen liegenden Aufklärung einen ebenso gewaltigen Erfolg. Für die unverdiente Erwähnung meiner Arbeiten bin ich Ihnen noch ganz besonders dankbar. ||
Seit meiner Rückkehr aus Amerika habe ich mich sehr intensiv mit der Frage nach den ältesten Entwicklungs- und primitivsten Culturstufen der Menschheit beschäftigt. Die Ethnologie und Praehistorie der Indianer hat mich dazu mächtig angeregt, vor allem aber die primitiven Feuersteinwerkzeuge, die ich neuerdings aus Belgien gesehen habe, die Eolithen, die Rutot in Brüssel so genau untersucht und beschrieben hat. Hoffentlich kann ich zu Ostern, d. h. im März, wenn ich nach Jena komme, einmal mit Ihnen über diese Dinge plaudern.
Amerika hat mich riesig interessiert, obwohl ich sagen muss, dass ich nicht dauernd dort || leben möchte, wenigstens nicht in den grossen Städten. Die Cultur ist doch noch sehr unfertig und voller Gegensätze. Das wäre aber alles zu ertragen, wenn man nicht auf Schritt und Tritt zu hören bekäme, dass Amerika das grösste Culturland der Welt sei. Am meisten interessiert hat mich natürlich die Wüste mit ihren wunderbaren Landschaften, z. B. am Gran Cañon und mit ihren Indianer Pueblos und dann auch noch Mexico, wo ich zum ersten Male die tropische Vegetation kennen lernte. Hoffentlich kann ich Ihnen im März ausführlicher berichten.
Inzwischen nochmals die herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahr sowie die besten Empfehlungen an Ihre verehrte Frau Gemahlin von
Ihrem getreuen
Max Verworn.