Verworn, Max

Max Verworn an Ernst Haeckel, Göttingen, 25. Juli 1904

Göttingen 25.VII.04.

Hochverehrter Herr Professor!

Haben Sie vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen! Es hat uns beiden sehr leid gethan, dass wir Sie zu Pfingsten nicht noch einmal auf Ihrer Rückreise in Göttingen begrüssen konnten, aber wir haben uns doch herzlich gefreut, Sie wenigstens auf ein paar Stunden bei uns gesehen zu haben. Hoffentlich führt Sie der Weg recht bald einmal wieder durch die alte Geheimrathsstadt und dann schenken Sie uns etwas längere Zeit als das letzte Mal.

Von den „Kunstformen“ habe ich die Hefte nur bis Heft 7 incl. Von Heft 8 an || habe ich sie noch nicht erhalten. Sie wollten mir im vorigen Herbst die nächsten Hefte geben, da ich aber als Reisegepäck auf meiner Durchreise durch Jena nur einen Rucksack bei mir hatte, bat ich Sie, mir dieselben lieber nach Göttingen zu schicken. Dann kam Ihre Reise dazwischen.

Was das Buch von Kassowitz betrifft, so muss ich gestehen, dass ich es noch nicht in continuo gelesen habe und auch voraussichtlich nicht lesen werde. Die Abschnitte, die ich gelesen habe, genügten mir für mein Bedürfniss vollständig. Sie machten mir den Eindruck eines geschickten aber oberflächlichen und arroganten Geschwätzes. Das Gute, was ich dabei fand, war mir meist nicht neu und das Neue erschien mir meist nicht besonders gut. Kassowitz hat offenbar das Bedürfniss, Sensation zu machen, und || erreicht das durch seine gewandte Darstellungsweise vielleicht auch bei Vielen, die keine eigene Kritik in physiologischen Dingen haben. Wer genauer prüft, sieht die oberflächliche, geiststreichelnde Behandlung schwieriger Probleme sehr bald. Kassowitz glaubt natürlich alles besser zu verstehen als Leute, die sich lange mit den einzelnen Fragen beschäftigt haben. Dass er hier und dort auch einmal das Richtige trifft, erhöht den Werth des Buches für den kritischen Leser kaum. Ich fürchte es wird Ihnen ebenso gehen wie mir, wenn Sie anfangen wollen das Buch zu lesen. Von Anfang bis zu Ende werden Sie es wohl auch nicht durchzulesen für nöthig halten.

In 4 Wochen werde ich wohl nach Amerika abdampfen. Viel Genuss verspreche ich mir von der Reise nicht, da ich gegen das Leben in Nordamerika, obwohl ich nie dort war, ein || Vorurtheil habe nach allem, was ich bis jetzt darüber gehört habe. Das Streben und Hasten nach rein praktischen Zielen ist mir nicht besonders sympathisch, und das scheint doch dem nordamerikanischen Leben hauptsächlich den Stempel aufzudrücken. Dabei fehlt für mich noch der historische Hintergrund, den ich ungern für ein Land entbehre. Immerhin wird es ja interessant sein, das Land einmal aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Man corrigiert ja doch seine Vorurtheile häufig sehr weitgehend. Inzwischen habe ich übrigens noch viel mit der Enquête über den naturwissenschaftlich-mathematischen Unterricht zu thun, die für die Breslauer Naturforscher-Versammlung in Scene gesetzt wird, so dass ich noch garnicht an Amerika denken kann.

Mit dem Wunsche recht froher Ferien und mit herzlichsten Grüssen von meiner Frau und mir an Sie und die Ihrigen bleibe ich in alter Verehrung

Ihr getreuer Max Verworn.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
25.07.1904
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 17441
ID
17441