Verworn, Max

Max Verworn an Ernst Haeckel, Göttingen, 29. Mai 1903

Göttingen 29.V.03.

Hochverehrter Herr Professor!

Ich benutze den ersten Pfingst-Ferientag, um Ihnen für die neue Ausgabe der Welträthsel zu danken und Sie um Entschuldigung zu bitten, dass ich das noch nicht früher gethan habe. Ich fand das Buch erst als ich aus Spanien zurückkam, wohin ich unerwarteter Weise als Delegierter des Deutschen Reichs zum internationalen medicinischen Congress geschickt worden war. ||

Zunächst nun meinen herzlichen Glückwunsch zu der Volksausgabe der „Welträthsel“. Wenn es überhaupt noch möglich ist, Ihre Ideen weiter zu verbreiten, als es durch die grosse Ausgabe der „Welträthsel“ und Ihre früheren Bücher geschah, so muss diese Volksausgabe es thun. Soweit ich sehe und höre hat jetzt wohl jeder Mensch, der überhaupt ein Interesse an der Entwicklung seines Geistes hat, wenigstens ein Exemplar der kleinen Ausgabe. Das freut mich riesig, denn mir scheint es grade von der grössten kulturellen Bedeutung, dass die Kreise, die || nicht selbst wissenschaftlich arbeiten und die sonst mit wissenschaftlichen Fragen und Anschauungen wenig in Berührung kommen, an eine vorurtheilsfreie und wissenschaftliche Betrachtung der wichtigsten Fragen der Menschheit gewöhnt werden. So hoffe ich, dass das Buch in diesen weiten Kreisen eine Menge von alten und traditionell ohne Nachdenken fortgeschleppten Vorurtheilen zerstören wird. Dazu ist es im höchsten Grade geeignet.

Zu Pfingsten werden wir diesmal leider nicht nach Jena kommen, so gern wir beide es gethan hätten. Meine spanische || Reise hat mich in der Arbeit sehr aufgehalten, so dass ich wegen des schon stark vorangeschrittenen Semesters bei meiner Rückkehr vieles liegen lassen musste, was ich nun jetzt in den paar Ferientagen möglichst nachholen muss. Dafür hoffen wir zu Hanfrieds Geburtstag nach Jena zu kommen und freuen uns schon seit langer Zeit darauf, mal wieder ein Jenenser Marktfest mitzumachen, wenn wir als „Fremde“ überhaupt noch zugelassen werden.

Das Semester scheint hier wieder besser zu sein als vor einem Jahre. Ich habe im Colleg eine kleine Steigerung der Frequenz zu verzeichnen. Auch mein || Laboratorium ist voll. Drei von meinen Jenenser Schülern sind wieder hierher gekommen: Baglioni, Pütter, Winterstein. Dazu noch ein paar Österreicher, ein Russe und ein Japaner. Letzterer kommt speciell um sich in der „Allgemeinen Physiologie“ auszubilden und soll nach seiner Rückkehr eine soeben von seiner Regierung bewilligte Professur für „Allgemeine Physiologie“ übernehmen. Die Japaner überholen uns! Wir haben in Deutschland noch keine Stelle für „Allgemeine Physiologie“, nicht einmal ein Extraordinariat.

Was haben Sie zu Neumeisters spät- || geborenem Geistesproduct gesagt? Es ist doch wirklich psychologisch interessant, was die vitalistischen Ideen auf kritiklose Köpfe, die gern ein bischen von sich reden lassen möchten (Driesch, Herbst, Wolff, Neumeister) für einen fascinierenden Reiz ausüben. Die Leute sind ja fast wie betrunken jetzt. Die Physiologie hatte sich bis jetzt noch von dem neovitalistischen Schwindel freigehalten, denn Bunge hat mir gegenüber brieflich seinen Vitalismus zurückgenommen und mich gebeten, ihn nicht als Vitalisten zu behandeln, wie er ja auch in der letzten Auflage seines Buches nicht mehr schreibt || „Vitalismus und Mechanismus“ sondern „Idealismus und Mechanismus“. Und nun kommt Neumeister, der nie auch nur die leiseste Fähigkeit gehabt hat, allgemeine Ideen durchzudenken und erklärt sich als Physiologe für den Vitalismus und die Lebenskraft! Wer Neumeister kennt, weiss ja Bescheid, aber die Andern denken doch nun: Aha, die Physiologen fangen jetzt auch an wieder zum Vitalismus zurückzukehren. Das ist schade! Und das Buch ist mit Perfidie geschrieben. Es geht kein nobler Zug hindurch. Aber genug!

Indem ich Ihnen und den Ihrigen recht frohe und gesunde Pfingsttage wünsche, und Sie bitte, alle Jenenser Freunde vielmals zu grüssen bleibe ich mit herzlichstem Gruss von uns beiden

Ihr getreuer

Max Verworn.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
29.05.1903
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 17437
ID
17437