Verworn, Max

Max Verworn an Ernst Haeckel, Göttingen, 30. Dezember 1901

Göttingen 30. Dec. 1901.

Hochgeehrter Herr Professor!

Ihnen und den Ihrigen recht herzliche Glückwünsche zum neuen Jahre von uns beiden! Möchte das neue Jahr Ihnen allen recht gute Gesundheit und Lebensfreude bringen und Sie verschonen mit unerquicklichen Kämpfen um die Welträthsel und uns alle mit dem Umsichgreifen von Vitalismus und Mysticismus. Es ist unglaublich, was das verflossene Jahr an Confusion in manchen Köpfen ausgebrütet hat. Driesch in Berlin auf der Zoologen-Versammlung und Reinke im Hamburg auf der || Naturforscher-Versammlung! Einen solchen Kohl hätte ich vor 10 Jahren nicht mehr für möglich gehalten. Ich müsste ja eigentlich über diese Dinge in der „Zeitschrift für allgemeine Physiologie“ referieren, aber ich frage mich, lohnt sich das überhaupt? Ist es nicht vielleicht viel besser, diese ganze vitalistische Confusion mit Stillschweigen zu übergehen statt sie ernst zu nehmen? Man wird blos immer wieder dazu gereizt, wenn man sieht, wie Männer von grosser Autorität, wie Waldeyer, O. Hertwig etc. damit liebäugeln, Männer die durch ihren Namen mit jedem Wort, das von ihren Lippen fliesst, schon auf den Unkundigen wirken. Was soll man da machen? Es erscheint alles so hoffnungslos. ||

Ich vermisse hier in Göttingen ganz ungeheuer die biologische und überhaupt naturwissenschaftliche Anregung, die man in Jena in so reichem Masse hat. Das Vereins-Wesen ist hier ganz unglaublich zersplittert, besonders infolge der tiefen Kluft, die zwischen Geheimräthen und Ordinarien einerseits und Assistenten, Privatdocenten und Extraordinarien andererseits besteht. Diese Kluft macht es einem auch fast unmöglich mit den jüngeren Elementen irgend eine Fühlung zu gewinnen, weil diese von einem Ordinarius nichts wissen wollen und ihm stets nur mit Misstrauen oder Argwohn begegnen, wenn er mit Ihnen anzuknüpfen sucht. Ich bin im Begriff die ganz zersplitterten Vereins-Verhältnisse hier ein wenig zu centralisieren, || wenn Allah will, denn wenn er nicht will, setze ich mich ganz gemüthlich zwischen zwei Stühle.

Hoffentlich gelingt er mir aber wenigstens eine grosse allgemeine Naturwissenschaftlich-medicinische Gesellschaft nach Jenenser Muster zu Wege zu bringen mit Hilfe der schon bestehenden particularistischen Vereine. Es ist eine höllisch undankbare Sache. Aber was ist Medicin ohne Naturwissenschaft? Es ist in unserer medizinischen Gesellschaft so höllisch langweilig, dass ich mich kaum entschliessen kann alle 4 Wochen zur Sitzung zu gehen, um dort von den uninteressantesten klinischen Fällen oder von den speciellsten pathologisch-anatomischen Kleinigkeiten bis um 11 Uhr Vorträge zu geniessen. Aber was man auch hier unternehmen mag, was man auch bei || irgend jemand anregen mag, sofort kommen einem 100 Einwände und 200 Bedenken entgegen und das Facit ist mit tötlicher Sicherheit stets: ,,Das geht nicht“! Jeder ist hier für sich selbst glücklich, er ist ja Göttinger Professor! Jeder schmort in seiner eigenen Selbstherrlichkeit und kümmert sich nicht um den Anderen. Für etwas Gemeinschaftliches ist Niemand zu haben. Von den gemeinsamen Interessen der ganzen Universität oder einzelner Gruppen will keiner was wissen, nur seine eigenen Sonderinteressen sind ihm bekannt und die vertheidigt er mit grosser Zähigkeit. Nur nicht einmal ein Stückchen von seinen Specialinteressen aufgeben, um etwas allgemein wichtiges, grosses zu erreichen. Ich kenne nichts kläglicheres als diese engherzige Ge- || sinnung. Und diese ist den Leuten nicht auszutreiben, soviel auch darüber geklagt wird. Ich vermisse Jena mit seinem frischen, freien Geist, mit seiner reinen Luft und seinem grossen idealen Streben hier auf Schritt und Tritt. Hier herrscht nur die bornierteste Selbstherrlichkeit.

Meine „Zeitschrift für allgemeine Physiologie“ beginnt nun zu erscheinen. Das 1te Heft wird zu Neujahr ausgegeben. Ich habe zwar viel Arbeit davon, aber doch auch viel Freude, denn ich kann darin Ideen zur grösseren Geltung bringen, die man doch durch einzelne Arbeiten nicht so fördern kann, wie durch eine Zeitschrift. Ich hoffe, dass ich dasa, was ich Jena verdanke, durch die Zeitschrift nun auch in meiner || ganzen Wissenschaft etwas mehr verbreiten werde, den alten Sinn Johannes Müllers. Die Sache scheint auch gut zu gehen. Ich bekomme vorläufig genug Arbeiten zugeschickt und wähle darunter aus, um der Zeitschrift ihren bestimmten Charakter zu sichern. Das 2te Heft ist schon im Druck. Für das 3te habe ich ebenfalls schon einige Arbeiten. Ich hoffe, dass es so gut weiter geht.

Aus meiner Reise nach Jena in diesen Ferien wird leider nichts, so sehr ich mich darauf gefreut hatte. Das Finanzministerium streikt und ausserdem habe ich jetzt sehr viel Arbeit. Hoffentlich kann ich im Beginn der Osterferien wieder einmal nach unserem alten Nest fahren.

Mit der Bitte Leo Schultze und die anderen || Jenenser Freunde vielmals von mir zu grüssen bleibe ich mit herzlichem Gruss stets

Ihr getreuer

Max Verworn.

a gestr.: dem; eingef.: das

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.12.1901
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 17433
ID
17433