Max Verworn an Ernst Haeckel, Neapel, 24. Dezember 1890.
Napoli 24.XII.90.
Sehr verehrter Herr Professor!
Heute ist Weihnachtsabend und ich sitze mit einem Collegen in wenig weihnachtlicher Stimmung in meinem Hotelzimmer bei einem Glas Punsch. Das Licht brennt trübe, der Regen schlägt gegen das Fenster und ein Anflug von Abschiedsstimmung zieht durch meine Ganglienzellen, denn morgen soll ich das schöne Napoli verlassen. Da ich 5 Tage bis Suez fahre und inzwischen keine Gelegenheit habe Neujahrsgrüsse nach Deutschland zu schicken, so thue ich dies schon || heute und sende Ihnen und Ihrer verehrten Familie meine herzlichsten Glückwünsche zum Jahreswechsel.
Der Abschied vom Aquarium und den Herren dort wird mir nicht besonders schwer, wohl aber sind es die Erinnerungen an die ersten Eindrücke von Neapel und an den herrlichen Sommer, die mir nun beim Abschied das Herz ein wenig schwer machen. Der Winter, der mit seinem schlechten, ja ununterbrochen miserablen Wetter schon Mitte October angefangen hat, hat mir Neapel förmlich verleidet, denn ausser dem Schmutz bietet Neapel jetzt nichts wie jede andere Stadt.
Weihnachten wird zwar von den Neapolitanern || auch gefeiert, aber doch auf eine eigenthümliche andere Art als bei uns. Man merkt es nur an den Buden im Toledo, an dem Gedränge auf den Strassen, an dem Lärm und an dem noch bedeutend vermehrten Schmutz. Dazu herrscht ein Geruch von Fischen in der Stadt, dass einem der Atem ausgeht. Aber der Fischmarkt in der Santa Brigida ist doch sehr interessant mit seinem Leben und Treiben, das sich seit gestern entwickelt hat. Die eigentliche Weihnachtsfeier der Napoletaner besteht darin dass jedermänniglich so viel isst und trinkt, als nur irgend in seinen Leib hineingeht. Ich vermuthe die Magenkartarrhe werden in der nächsten Woche eine bedenkliche Zunahme || erfahren.
Mit meinen Arbeiten in Neapel habe ich in der vorigen Woche abgeschlossen. Zuletzt hatte ich mich noch auf die Radiolarien geworfen, worunter die grosse Thalassicolla nucleata ein herrliches Object für operativ-physiologische Versuche bietet.
Ich hoffe dass auch meine Reise nach Tor nicht ohne Ergebnisse bleiben wird und dann will ich mit meinen Wissenschaftlichen Resultaten, besonders nach der anfänglichen Furcht vor Misserfolgen, ganz zufrieden sein. Es ist doch gewissermaassen ein Hazardspiel, wenn man an pelagischem Material arbeitet und ich habe das im ganzen Verlauf der Reise erfahren.
Indem ich Ihnen nochmals ein herzliches Prosit Neujahr wünsche bleibe ich mit vielen Grüssen
Ihr treuer Max Verworn
Meine Adresse in Tor ist: chez Mr. Alfred Kaiser, Suez, Station scientifique à Tor, Egypte.