Verworn, Max

Max Verworn an Ernst Haeckel, Neapel, 10. Dezember 1890

Napoli, Aquario

10.XII.90.

Sehr verehrter Herr Professor!

Nach langer Überlegung und besonders in Anbetracht des so lange andauernden ungünstigen Wetters habe ich mich nun doch noch entschlossen nach meinen 6 monatlichen Aufenthalt in Neapel nach dem roten Meere zu gehen. Herr von Ritter, der mir schon im Sommer zu diesem Zweck, wie Sie wissen, einen Zuschuss anbot, hat mir nachträglich dazu 1000 Frk. zur Verfügung gestellt und ich hoffe || dass nun meine Gelder reichen werden, um einen 2 monatlichen Aufenthalt in Tor bestreiten zu können. Ich würde Ihnen zu grossem Danke verpflichtet sein, wenn Sie mir bei Ihrer Kenntnis der dortigen Gegend einige Rathschläge und ev. auch Empfehlungen zukommen lassen wollten. Ich denke gleich nach Weihnachten mit dem Schiff nach Alexandria oder Port-Said zu gehen um mich direkt nach Tor zu begeben. Gestern habe ich zum ersten Mal Ihre „Arabischen Corallen“ in die Hand bekommen und mich daran von Neuem für meine Reise begeistert.

Ausser meiner Otolithenarbeit, die ich || noch in der nächsten Zeit druckfertig zu machen hoffe, habe ich hier in Neapel noch eine kleine Arbeit über die physiologischen Functionen der einzelnen Elemente der Radiolarienzelle (Thalassicolla) ziemlich zum Abschluss gebracht. Doch denke, dass ich in der nächsten Woche ganz damit fertig sein werde. Eine Arbeit über Flimmerbewegung, die ich an Ctenophoren untersucht habe und in Villafranca beendigt habe, erscheint demnächst in Pflügers Archiv. Wenn ich am rothen Meer noch entsprechenden Erfolg habe wie bisher, will ich mit meinen wissenschaftlichen Reiseergebnissen zufrieden sein. Auch unterschätze ich nicht die || Erweiterung meines allgemeinen Gesichtskreises und den Erwerb manches freieren und vorurtheilsfreieren Urtheils über mich selbst, wie ich sie auf meiner Reise gewonnen habe. Ich habe empfunden, dass man sich selbst und alles was man kennt, doch ein klein wenig zu engherzig zu beurtheilen pflegt, wenn man immer nur in dem Stückchen Welt sich bewegt hat, in dem man von Jugend auf gross geworden ist. Ich glaube dass diese Erkenntnis mir nicht zum Nachtheil gereichen wird, denn sie enthält doch ein grosses Stück Selbsterkenntnis und bewahrt einen vielleicht vor einer gewissen Selbstüberschätzung, wenn ich mir auch bisher keinen allzu grossen Vorwurf draus zu machen brauchte.

Zu Weihnachten hoffe ich vielleicht noch ein paar Zeilen, vor meiner Abreise, von Ihnen zum empfangen. Inzwischen bleibe ich immer mit herzlichem Gruss

Ihr treuer Max Verworn.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
10.12.1890
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 17382
ID
17382