Weiß, Ernst

Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Berlin, 14. Februar 1856

Berlin d. 14ten Februar 1856.

Mein lieber alter Ernst!

Wie vorausgesagt, folgt hier ein zweiter Brief, u. Du magst sein Kommen entschuldigen; es soll theilweise eine Ergänzung zu den letzten kurzen Zeilen sein, wenn auch selbst nicht länger als jene. Aber diesmal wäre ja schon weit mehr die Kürze eines Briefes entschuldigt, da wir über ein Kurzes uns selbst sehen werden. Was ist da vorher noch ein langes u. breites Expektiren auf so schlechtem, ungenügendem Wege nöthig als der schriftliche ist, wenn die mündliche u. unbehinderte in so naher Aussicht steht. Wenigstens kommt es mir just so vor, als müßtest Du alle Augenblicke schon zu meiner Stubenthür hereintreten u. ich bin so wirklich in Augenblicken des Traumes schon im Begriff gewesen, Dich zu bewillkommnen. Freilich in Rücksicht auf die Aussicht, daß sich dies noch einiger Maaßen hinausschieben wird, ist der noch zu wartende Monat allerdings viel zu lang. Und daher komme ich Dir denn jetzt schon angezogen, oder schicke doch einen Vertreter, eben diese Zeilen (– so schlecht wie ich selbst –), Dich herzlich zu grüßen an Deinem Geburtstage. Nun hängt’s von Dir ab, ob Du den Burschen zu Gnaden annehmen willst, ob nicht. Ich meinerseits will’s riskiren, vielleicht lächelt mir Fortuna – u. dann wirst Du doch auch nicht anders umhin zua können die Gewogenheit zu haben scheinen wollen. ||

Doch entschuldige, so gut Du kannst (zu entschuldigen, ist’s eigentlich gar nicht), meine Thorheit, mit der ich die edle Zeit u. das Briefpapier vergeudeb, statt zumal bei den ernsten Zeiten, schwerwiegende vernünftige Worte zu gebrauchen. Es kann freilich passiren, daß ich auch späterhin noch solche thörichte Stunden bekomme, doch dann bist Du ja in der Nähe u. ich rechne dann bestimmt darauf, daß Du mich mit gewichtigen Worten wieder ins alte Gleis zurück-räsonniren wirst. Viel mehr habe ich Sorge in Betreff ganz entgegengesetzt gestimmter Stunden; denn denke, so schwankend ist der, den Du kennst, organisirt, um mich so auszudrücken, daß ihm solche halbtolle Augenblicke, wie etwa jetzt, eine reine Erholung, wie ein Erwachen in einer schönern Welt, in seinem sonst durchaus phlegmatisch-apathisch-stoisch-philosophisch-träumerischen Leben erscheinen! – Nun Du wirst so viel an mir zu tadeln finden, daß ich mich wirklich nicht wenig vor Dir fürchte, wenn ich daran denke. Die einzige Hoffnung tröstet mich: daß Du nämlich unter der Fülle an Stoff zum Tadeln so lange nur nach einem System, nach einer Methode, der ernsten Rüge auch den nachhaltigsten Eindruck zu verschaffen, c werdest suchen müssen, daß mir wohl dann u. wann noch Zeit bleiben wird, der Ruthe zu entschlüpfen. Dasd weit Wahrscheinlichere ist, daß Du überhaupt die Lust dazu verlieren werdest, u. ich weiß sogar in diesem dem Tollen angenäherten Augenblicke nicht, ob ich diesen Fall nicht als ein viel größeres Unglück betrachten sollte. Das Eine empfehle ich Dir jedenfalls, mich mit Deiner großen Erfahrung im Umgange mit der Menschheit, besonders in sogenannten Gesellschaften, || sei es wo sich auch Gelegenheit dazu darbieten sollte, zu unterstützen. Du, der Du nicht blos schon hier in Berlin so entschieden Carrière, besonders bei der Damenwelt, gemacht hast, sondern auch so eben erst einen berühmten Würzburger Tanzkünstler, der an die zue vollendende Politur nur die letzte Hand angelegt hat, entronnen bist: Du wirst entschieden am allerbesten im Stande sein, einem Ungeübten ein paar geringe Andeutungen gleichsam wie ein kleines Almosen aus dem reichen Schatze Deiner gesammelten Fertigkeiten zukommen zu lassen. – Du siehst, wie egoistisch, wie habgierig f meine Freude ist, Dich baldigst hier zu sehen, wie bedeutend einer national-ökonomischen Anschauung des Lebens verwandt.

Doch es wird Zeit, glaube ich, nun endlich einmal wieder vernünftig zu werden. Du möchtest wohl auch sonst die Geduld verlieren. Am besten wird mir das vielleicht gelingen, wenn ich Dich frage, wann eigentlich Du hieher zu kommen gedenkst u. Dich bitte, dies so bald als möglich zu thun, da ich nicht die ganzen Osterferien hier sein werde. Mein Bruder in Schkeuditz nämlich wünscht mich in den Ferien bei sich zu haben, u. ich habe freilich nicht minder den Wunsch, ihn zu sehen. Doch da er in der Festzeit immer viel beschäftigt u. für Andere ungenießbar ist, so werde ich erst nach Ostern dorthin gehen, Dich also jedenfalls hier empfangen können. Nur wünsche ich eben, daß Du das gräuliche Würzburg, das mich noch vorigeng Sommer beinah ganz aus meiner Reiseroute gebracht hätte, nachher aber (vom Kreuzberge (+++) aus) nicht einmal zu sehen war, so bald als möglich verlassen u. unterwegs Dich nicht allzu lange aufhalten h mögest, wenn || anders die feurigen Augen der lieblichen bayerischen Zier-Mädels Dir dies möglich machen. Anfangs hatte ich den Plan, daß wir uns etwa in Halle treffen könnten; aber den habe ich bald genug aufgegeben, da es in der That wohl auch schwieriger als sonst herzustellen gewesen wäre. Weber u. Hetzer, wie sie mir andeuten, mögen sich beide in schlechteren Umständen befinden als sonst; wenigstens lassen die paar Zeilen, die ich endlich von ihnen erhalten habe, stark vermuthen, so daß ich jedenfalls nicht bei ihnen logirt haben würde. Mündlich vielleicht mehr.

Meine Aussichten haben sich in letzter Zeit mehr verbessert; was nämlich Bekannte betrifft, einen Freund wie Dich natürlich ausgenommen, der immer die oberste Stelle behalten wird u. muß. Vor kurzem habe ich mich verleiten lassen, in den „akademischen naturwissenschaftlichen Verein“ einzutreten, in dessen Sitzungen ich bisher hospitirt hatte, u. der übrigens sehr im Argen sich befindet. Auch Hein sen. u. Lachmann traf ich neulich in einem Concert bei Liebig; sie schleppten mich von dort mit in das Münchner Brauhaus, wo sie bisweilen zu kneipen pflegen, u. wir haben da einen recht vergnügten Abend verlebt. Ich kann in der That nicht anders sagen, als daß mir Beide da mehr als je gefallen haben. Hoffentlich werde ich sie noch besser kennen lernen, wenn Du erst hier bist, worauf ich mich gewaltig freue. Wir haben, wie auch nicht zu erwarten, freilich keine naturphilosophische Gespräche geführt, aber jeder that das Seinige die Andern nach Kräften zu unterhalten. Wie viel Vorzüge haben da freilich || alle meine Bekannten vor mir voraus! Ich könnte in Rücksicht hierauf fast meiner ersten u. festen Ansicht untreu werden, daß man die Freundschaft in der gleichen, oder doch möglichst gleichen, Stimmung der Seelen, der Entwicklung des Gemüthes (denn darauf wesentlich scheinen mir die gleichen Grundlagen des Geistes zu ruhen) suchen müsse. Dies wird immer meine Ansicht bleiben; aber wohl darf man auch den Werth der Gesellschaftlichkeit nicht vernachlässigen; denn auch diese Tugend (was sie allerdings ist) basirt ja auf die Achtung vor gewissen gemeinsamen Grundlagen des Geistes, – wenigstens sollte sie es. – Du siehst, lieber Freund, wie weit man in der Praxis hinter der Theorie zurückbleiben kann! Doch muthig vorwärts! In wissenschaftlicher Beziehung darf ich Dir jetzt schon ein Resultat mittheilen, ganz verschieden von dem früheren Semester, nämlich daß ich diesmal wirklich sehe, daß mir dies eine Semester hier in Berlin viel, unvergleichlich mehr als selbst alle 3 vorhergegangeneni in Halle zusammengenommen, genutzt hat, obschon ich nicht umhin kann, jenen den vorbereitenden Antheil an dem Resultate zu lassen. Es bezieht sich der reelle Nutzen zwar fast nur auf die eine Wissenschaft der Mineralogie, dank meinem trefflichen Onkel, der mir so viele Hülfsmittel in die Hand gegeben hat!; aber schon daß ich zu dieser Überzeugung ge-||langt bin, hat etwas Ermuthigendes, das ich nicht hoch genug anschlagen kann. Mit wie viel mehr Ruhe u. Sicherheit blickt man nicht auch auf die mancherlei anderen Wissenschaften, aus denen man einen solchen reellen Nutzen für das Wissen noch nicht gezogen hat, wenn man nur die Gewißheit der Möglichkeit hat, auch die vorhandenen Lücken noch auszufüllen. So z.B. geht es mir mit der – für die modernej Geologie so wichtigen – Petrefaktenkunde, von der ich freilich leider noch nicht viel verstehe; so, noch schlimmer, mit der Mathematik, von der mich, wie voraus zu sehen, die specifisch mineralogischen Studien dieses Winters bedeutend abgelenkt haben. Doch bei alle dem ist mir die Überzeugung geblieben, daß ich, wenn anders ich gesund bleibe, das vorschwebende Ziel erreichen werde, u. der Muth, es consequent zu verfolgen. – Ein wesentliches Moment, die früheren sogenannten Catorek moralici in Zukunft fern zu halten.

Doch bitte, lieber alter Junge, sei mir nicht böse, wenn Du so viel dummes nutzloses Zeug lesen mußt. Ich weiß auch gar nicht, warum ich keinen gescheuten Einfall bekomme u. Dich immer mit solchen träumerischen u. tollen Dingen quälen muß. – Das ist noch etwas, um einen Kater zu bekommen, daß man den Herzensfreund nicht einmal besser zu unterhalten versteht! Drum will ich auch gleich das Kapitel u. den Brief schließen; versteht sich, mit dem allerherzlichsten u. schönsten Gruße

Dein treuer alter

Weiß

Richthoffen wollte mir ein paar Zeilen an Dich zur Einlage senden; da aber bis zum gegenwärtigen letzten Termin noch nichts gekommen ist (der faule Mensch), so will ich Dich an seiner Stelle nur herzlich grüßen, was er mir hoffentlich nicht übel nehmen wird.l

a eingef.: zu; b korr aus: vergeute; c gestr.: su; d korr. aus: Daß; e eingef.: zu; f gestr.: ,; g gestr.: vorigen; eingef.: vorigen; h gestr.: f; i eingef.: vorhergegangenen; j eingef.: moderne; k korr. aus: Catorés; l Text weiter am linken Rand quer zur Schreibrichtung: Richthoffen wollte … nehmen wird.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.02.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 16644
ID
16644