Weiß, Ernst

Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Merseburg, 28. Januar14. Februar 1854

Merseburg d. 28. Jan. 1854.

Mein lieber alter Häckel!

Was ist doch der Mensch für ein lächerlich eigensinniges, trotziges, thörichtes Geschöpf! Da klagt er über dies, da ist ihm jenes nicht recht, da glaubt er der Unglücklichste der Sterblichen zu sein, da sträubt er sich gegen Alles, was ihm nicht gleich in den Sinn will – u. wenn’s dazu kommt, wenn er sich’s recht überlegt, oder gezwungen – wie er meint, aus diesen u. jenen Rücksichten – das thut, was sein Leben zum unglücklichsten machen soll, dann ist es doch das Beste gewesen, u. die Klagen sind umsonst geschehen. Du wirst Dich wundern, lieber alter Freund, wie ich so urplötzlich auf solche Moral-Philosophie komme. Nutzanwendungen zu machen, will ich uns beiden überlassen, im Stillen zu thun. Als ich Dir meinen letzten Brief schrieb, da war ich in solch lächerlich eigensinniger dummer Verstimmtheit: Gott sei Dank, daß das vorbei ist; ich bin jetzt so fröhlich, so zufrieden, ich weiß selbst nicht wie, u. das Examen hat doch noch nicht angefangen! Es wäre also billig, moralischen Examen-Katzenjammer zu haben; im Grunde, ’s ist merkwürdig, habe ich den noch nicht gehabt u. heute z. B. ist mir, als sollte ich Einen aus lauter Liebe durchprügeln, auffressen usw. wozu ich am liebsten Dich hier hätte. a – Bis dahin wo ich Dir schrieb, war der Widerwille gegen Halle immer gewachsen, Emil war da gewesen, nichts hatte geholfen; nachher nahm er ab, vielleicht habe ich ihn mir vom Halse geschrieben, es thut mir nur leid, daß Du dabei so unnütz geplagt worden bist. Endlich Dein kürzlich angekommenen Brief: – mein lieber guter alter Ernst, herzlichen Dank für diesen; ich kann Dir nicht sagen, wie ich mich gefreut habe über diesen, ich denke Du wirst mir’s anfühlen; nun Dein Brief machte Alles wieder gut, u. Gott schenke einem Jeden, absonderlich Dir, lieber Freund, meine heutige tranquillitas animae, doch für’s ganze Leben! Ich bin mit Halle vollständig ausgesöhnt u. wünsche nur, die Losung Halle möge sobald als möglich wahr werden. Nun kommen alle möglichen schönen Bilder: man wünscht Jägerplatz No. 1074 zu wohnen, mit Hetzer und Weber ins Laboratorium zu Heinze, ins Colleg zu Knoblauch (Physiker u. Hahn) zu bummeln, mit denselben zu beobachten „wie in der Nähe von Halle der Porphyr offen zu Tage liegt“ und was weiß ich, zu unternehmen, sich den Teufel um Merseburger Pennäler mehr zu kümmern, als z. B. um Meier, Eichhoff, Joachim, Frischbier etc. etc. (alt-märkische Bande), ein wundervolles freies Leben zu führen, wenn’s auch manchmal mit Schmalhans verküchenmeistert, mit patzigen Schneidern, Schustern u. andern Schuldigern gewürzt ist. 13/2 54. In dieser Hinsicht habe ich mir freilich noch keine großen Ideale vorgestellt. Was die Ideale sonst betrifft – ich will vorläufig nicht über die meinigen schwatzen, – aber die Deinigen: Mensch, sage, willst Du Dir denn dein ganzes Leben verbittern, indem Du, weil Du Vieles wider Erwarten schlimm gefunden, diese einzig beruhigenden Gedanken, die Jeden an das Leben recht eigentlich knüpfen, von Dir scheuchen, oder doch, indem Du auf ihre Realisation resignirst, zerstören willst oder wirst. Doch ich glaube, Du bist ruhiger, als ich fürchte. Die alte Noth wegen Deines ungern begonnenen Studiums der Medicin sehe ich jetzt mit andern Augen als früher an. Es scheint mir (um offen mit Dir zu sprechen, wie ich auch Dir herzlich für Deine offene Sprache in Deinem Briefe an mich danke), daß es wirklich nöthig ist, daß Du die Medicin zu Ende studirst, nicht um praktischer Arzt zu werden: bewahre; sondern um desto gründlicher u. besser die Physiologie Dir zu eigen zu machen. Da ist nun freilich keine Rose ohne Dornen, u. es geht Dir, wenn auch etwas schlimmer, als mir mit der Mathematik; denn ich werde nie in dieser gar zu abstrakten u. stellenweise höchst trocknen Wissenschaft Befriedigung fühlen können, sondern muß sie || eben immer nur als nothwendiges Hülfsstudium betrachten. Aber Du quälst Dich da mit einem sonderbaren Gedanken herum, nämlich dem Ärger über Deine „Ungeschicklichkeit“. Rom ist freilich nicht in einem Tage erbaut worden, aber es hätte ebenso gut können zuerst auf dem esquilinischen als dem palatinischen Hügel erbaut werden. Was dem Einen gegeben ist, das kann der Andere lernen. Wenn du Steudner um sein Talent und Genie beneidest, so mußt Du an dem Deinen nicht gleich verzweifeln. O wären wir nur erst in Berlin zusammen; ich wollte Dir beweisen, daß Du Unrecht hast, daß Du die Dir nöthige praktische Geschicklichkeit und Gewandtheit wohl anzueignen im Stande wärst! Was dies also betrifft, so schüttle nicht länger den Kopf; forme, wie ich vor 7–8 Jahren in Neusalz in der Eisengießerei, Ausschuß u. wieder Ausschuß, doch verzweifle nicht, zuletzt wird’s doch etwas. Und daß Dir, wenn Du einmal dies überwunden, das Studium der Medicin, dieser „gräulichen Wissenschaft“, vollendet zu haben dennoch lieb sein wird, glaube ich aus Deinen eigenen Worten abnehmen zu können. Für die Physiologie sind viele und zahlreiche, vortreffliche Kräfte bereit und versammelt; doch das ist überall der Fall; Einer sucht dem Andern den Vorrang abzulaufen und da haben denn die von der Natur Bevorzugten einen Vorsprung, doch deshalb nicht gewonnen. Nur Eins thut Dir Noth: ein wenig mehr Ruhe, die man doch Niemand durch Reden beibringen kann; Dein zu sanguinisches Temperament, wie Du selbst sagst, ist an all den Verwirrungen, an aller Noth, die Dich quält, schuld. Ja die tranquillitas animae! – Gott schenke sie Dir zu Deinem Geburtstage, das wäre das beste Geschenk was Dir gemacht werden könnte, u. dazu hauptsächlich wünsche ich Dir Glück. – Doch habe herzlichen Dank dafür, daß Du Dein Herz einmal recht ordentlich ausgeschüttet hast. Hättest Du doch damit auch alle und jede Unruhe aus und fortgeschüttet. Wenigstens bitte ich Dich, auchferner so zu thun; ich glaube, ich bin phlegmatisch genug, um von Deinen allzu sanguinischen Ideen u. Ergüssen nicht angesteckt zu werden. Freilich wohl nicht ermuthigend für Dich, Deine Worte auf so harten Boden fallen zu lassen; doch ich denke, sie werden immerhin hundertfältige Frucht bringen, wäre es auch nur die Befestigung unserer Freundschaft, u. das ist ja auch eins der Ideale, von denen man träumt, u. die doch am schwersten erfüllt werden. Und ich weiß auch gewiß, Niemand wird das so gründlich erfahren als ich, der ich oft genug nahe daran war, mit der ganzen Welt zu zerfallen und mich lediglich nur auf mich zu beschränken. Doch wie gut, daß das vorbei ist, man kann dabei nur zu Grunde gehen.

Um Dir ein Beweis von meiner jetzigen Zufriedenheit mit meinen Aussichten von Ostern ab zu geben, will ich Dir sagen, daß ich selbst mit der Botanik wieder etwas mehr versöhnt bin, ja so sehr, daß es möglich ist, daß ich bei Schlechtendal hören werde, trotzdem ich es verschworen hatte, u. daß ich auch schon allerhand Pläne gemacht habe. Z. B. kam mir neulich eine Anzeige eines botanischen Tauschverkehrs unter Leitung eines gewissen Alexander Skositz in Wien in die Hände; mir fuhr’s durchs Hirn, ich schrieb (da verrückte Ideen auszuführen jetzt einmal an der Tagesordnung zu sein scheint) an besagten Herrn Skositz und zog nähere Erkundigungen ein. Vor ein paar Tagen kommt auch wirklich ein Schreibebrief aus Wien von jenem Unbekannten an mich an, mit den Statuten des Vereins u. ein paar sehr höflichen Zeilen. Sollte ich nun wirklich durchs Examen kommen, so weiß ich nicht, was ich thue. Zur Probe schicke ich Dir die Statuten mit, doch mit der Bitte, mir sie wieder zuzustellen. Dies nur ein Exempel von verrückten Gedanken dieses Hirnkastens. Doch dazu ist jetzt keine Zeit, obendrein da ich (denke!) vor ein paar Tagen, ja heute noch, in nicht geringerb Gefahr schwebte, vom mündlichen Examen zurückgewiesen zu werden!! Wäre ich jetzt nicht beruhigt, so hättest du wahrscheinlich kein Brief von mir erhalten. Du magst mein Phlegma erkennen. Die Auseinandersetzung dieser Geschichte wirst Du wünschen und kann ich nicht verweigern. || Es werden Dir die Haare etwas zu Berge stehen, Du wirst vielleicht den Kopf über mich schütteln; doch ich für meinen Theil bin nach den Stürmen von 3 Tagen so gleichgültig geworden, daß ich dies mir gar nicht vorstelle. Dies ist mit kurzen Worten die Sache: vorige Woche wurden die schriftlichen Arbeiten von den Abiturienten geschrieben, am Donnerstag die mathematischen. Zierhold, der nicht vom Geringsten eine Idee hat, schreibt einen Zettel von mir ab, u. zwar so sinnlos, daß er die zweite Seite zuerst nimmt, u. so die Mitte der Aufgabe zum Anfang, den Anfang zum Ende macht. Da ich kein anderes Concept hatte und doch jeder das seine beilegen mußte, so wurde natürlich die Sache von Buchbinder sofort entdeckt, der darüber so wüthend wurde, daß er von Osterwald mit Mühe so weit gebracht werden konnte, dem Collegium vorläufig nichts anzuzeichen [!]. Doch erklärte er vor der Klasse, uns beide durchfallen lassen zu wollen, was er zwar heute, da Zierhold natürlich zurückgetreten ist, zurückgenommen hat. Ich hätte die Sache Dir nicht zu erzählen brauchen, Du würdest vielleicht es lieber gesehen haben, wenn Du Dir in Weiß einen Andern als einen Betrüger, wie er jetzt (vor der Klasse wenigstens) dasteht, hättest vorstellen können. Auch weiß ich nicht, ob Du noch etwas mit mir zu thun haben willst. Doch das weiß ich, daß ich vor Dir lieber als ein ehrlicher, offner Freund, als ein verstellter Schlingel gelten will. Und so bitte ich Dich wenigstens bei unserer bisherigen Freundschaft, diese Angelegenheit in Dir zu verschließen. Wer es sonst noch erfahren soll, wird meine Sache sein. – Ich habe in den 3 Tagen mehr Erfahrungen gemacht, als sonst in einem Jahre. Wollte Gott, es wäre erst Ostern. Mich dauert Osterwald. Was ich sonst Dir noch zu sagen gehabt hätte, es ist mir unmöglich, es zu schreiben. Es ist 12 Uhr. Gute Nacht. Mögen alle meine Wünsche für Dich, die sich an Deinem Geburtstage mir aufdrängen, erfüllt werden. Entschuldige daß ich schließe; vielleicht kann ich morgen noch etwas hinzufügen. Jedenfalls doch gedenke immer

Deines treuen Freundes

Ernst Weiß

14/2 54.

Ich bin zwar noch nicht ruhig genug, um Dir über Alles, was Du wünschen könntest und was ich selbst Dir zu schreiben wünsche, Nachricht zu geben; doch da Du etwas Näheres über das Examen, Arbeiten etc. zu hören batest, so theile ich Dir noch unsere Themata mit. Im Deutschen: „Mit welchem Recht hat Cicero den Ödipus auf Kolonos ein carmen mollissimum genannt?“; im Lateinischen: „Quibus rebus maxime ii, qui in optima republica Romana ceteris praestiterunt, laudem et gloriam meriti sint.“ – Die Arbeiten von Montag bis Freitag sind bei mir, wie ich vermuthe, genügend ausgefallen; ob die Lateinische? Heute war der Alte sehr guter Laune; doch sagt er, bei Leibe, nichts über die Arbeiten.

Von Osterwald’s die besten Grüße u. Glückwünsche von

Deinem Weiß.

a über der Zeile gestr.: Gott schenke … absonderlich Dir,; b eingef.: nicht geringer

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.02.1854
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 16631
ID
16631