Weiß, Ernst

Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Merseburg, 10.-12. Oktober 1853

Merseburg d. 10. Okt. 53.

Mein lieber Häckel!

Als ich das vorigemal an Dich schrieb, hatte ich die löbliche (?) Absicht, das nächste, als wie dies Mal die nöthigen Pflanzen ohne die nöthigen Begleitungszeilen an Dich zu schicken. Doch wer bringt das über’s Herz! Jetzt würde mir’s fast als Sünde erscheinen, u. das geht so zu. Dazumal war ich noch sehr oder vielmehr ganz, mit allen Gedanken, von meiner gewesen gemacht worden seienden Reise erfüllt; ich dachte fast an nichts weiter groß, als an die schöne Erinnerung. Jetzt aber – – ja jetzt! welche Ewigkeit liegt zwischen dunnemals und jetzt! Gut, daß ich einmal veranlaßt wurde, nach Kösen zu reisen, ich glaube ich träumte u. verginge noch ganz, wenn sich nicht wieder andere Erinnerungen zu jenen gesellten u. jene ins rechte Licht stellten. Sonst erschien mir Thüringen als Ideal, – ja es ist hübsch, sehr hübsch; aber – – oder bin ich doch froh, vor kürzerer Zeit nochmals vor Thüringen gestanden zu haben. Wie lernt man erst den Unterschied auffassen, wenn man 2 schöne Gegenden bald nach einander sieht; u. froh bin ich auch, jetzta dort auf der Rudelsburg gewesen zu sein, weil diese Gegend, so winzig u. unbedeutendb sie im Vergleich mit jener erscheint, doch einen milden, nicht soc ernsten Eindruck hinterläßt; denn ich glaube, Alles kann man vergessen, aber so eine, wirklich erhabene Gegend drängt sich dem Gemüthe mit Gewalt auf. Und wunderbar: als ich dort war: da zog es mich mit aller Macht hinauf, so hoch als möglich, je höher, desto besser, Schneekoppe, Riesengrund, die Teiche, Elb- u. Pantschefall, auch die Schneegruben wünschte ich nicht zu verlassen; das Alles hätte ich, wie gern!, zum zweitenmale gesehen (und nur das Wetter hinderte mich, von Schmiedeberg aus abermals hinauf zu wandern). Jetzt, wo ich Alles, auch die niederen Parthien, die ich im Juli Anfangs fast nur machte, weil es einmal so auf der Route stand (!!), wo ich diese schon langed hinter mir habe, da denke ich, wenn ich an jene Reise denke, zuerst die niederen Parthien u.e an den Höhenzug der Sudeten, wie man ihn im ganzen Hirschberg-Warmbrunner Thale vor Augen hat, u. nachher erst kommt allmählig das Einzelne, u. unter diesen – doch nein, das Andere ist ebenso schön. Überhaupt habe ich genug schon geschwatzt, zu viel vielleicht: aber Du siehst, wie erfüllt von jener Reise ich noch immer bin; u. hier kann ich noch einmal sagen, ich bin jetzt nicht mehr traurig, es verlassen zu haben, wie anfangs – u. eben dies hat die Naumburg-Kösener Gegend gethan –, denn: „auch in der Heimath ist es schön“, wenn man nämlich die Heimath so weit ausdehnt, bis eine schöne Gegend drin liegt. ||

Wie viel könnte ich Dir noch erzählen, wenn ich mich darauf einlassen könnte. Und wenn Du beklagst, zu wenig von meinem vorigen Briefe gehabt zu haben, so muß ich Dir sagen: ich müßte mit Dir dort noch einmal wandern können, wenn ich Dir eben Alles erzählen u. deutlich machen sollte. Im Übrigen, erlaß mir ein Mehreres. Du kannst nicht glauben, wie gern ich Dir Alles mittheilen möchte, aber das läßt sich in einem gelegentlichen Briefe nicht vollführen. Sollten wir uns nicht noch vor Jahresfrist einmal sprechen können? etwa in Berlin zu Ostern? À propos, nach Deinem Brief scheinst Du später (etwa zum 5ten Semester?) wiederf nach Berlin gehen zu wollen. Das wäre herrlich – – – – wenn ich nämlich nicht durchs Abiturienten Examen falle u. sich so aus dem A u. E ein A B (ab) oder E X (ex) bildet u. ich nach dem Abiturienten Examen weitg ab u. ex – nämlich vom Durchsein – mich befinde. ’s ist zwar noch immer, u. jetzt erst recht, hübsch auf der Domschule, aber das Abiturienten Examen bleibt im alten Zustand des Katzenjammer-Erregens. Zwar, obgleich ich das Abiturienten Examen vor mir sehe, so kenne ich bis jetzt nur erst ein kleines k. e., das große K. E. kommt vielleicht später. Sed sat sit.

Redeamus, unde digressi sumus, also zu schickenden Pflanzenpackete. Schon deswegen kann ich die Pflanzen nicht ganz selbstredend abschicken, sondern es folgen ein paar adnotationes. Ob ich noch das Packet werde nach Ziegenrück, Deinem Wunsche gemäß, schicken können, weiß ich noch nicht. Viel Zeit hat es mir gekostet, ehe ich mit Ordnen nur halb zu Stande gekommen bin – u. Zeit ist einem A. b. i. t. u. r. i. e. n. t. en bekanntlich kostbar, weshalb ich Dich bitteh diesmal auch mit weniger Zeilen als sonst zufrieden sein i müssen zu wollen die Gewogenheit zu haben: indessen nehme ich recht gern ellenlange Briefe an u. danke schönstens für deren Empfang oder vielmehr für die Empfangen-Werdendheit.

Es thut mir leid, Deinen Vater nicht gesehen u. gesprochen zu haben, der jedenfalls noch Manches über seinen Ernst hätte erzählen können, z. B. was er sonst fürs Nächste für Pläne hat, etc. etc. Hoffentlich wird dies auch der vorhergenannte Ernst selbst thun. ||

12/9 53.

Ich will noch versuchen, ob die Pflanzen Dich in Ziegenrück noch antreffen werden. In Kürze noch Einiges.

Moose konnte ich Dir so gut als gar nicht mit schicken, da diese sehr im Argen bei mir liegen u. ein Suchen mich wohl einen Tag aufhalten würde. Nur was mir gerade in die Hand kam, folgt. – Über die Pflanzen im Allgemeinen muß ich sagen, daß ich mir selbst eigentlich diesmal viel Unehre mache, indem sie meistens nicht schön gerathen sind. Aber davon habe ich Dir schon den Entschuldigungsgrund geschrieben. Vieles habe ich wegwerfen müssen, Vieles k durch Abbürsten u. Abpinseln von Moder u. Schimmelarten gereinigt u. so noch vor dem Verderben gerettet. Dies Mittel habe ich erst jetzt kennen lernen u. merkwürdig oft anwenden müssen, da mir dies Jahr sehr viel verdorben ist oder auf dem Wege war zu verderben. Du mußt also vorlieb nehmen. – Ein Zweites ist, daß ich Dir ungeachtet ich es hoffte u. Du es wünschtest, Manches nicht mit schicken kann, oder doch in nur einzelnen Exemplaren. Du kannst Dir aber selbst denken, wie es Einem geht, der seit 8 Tagen ein sich mit rasender Schnelligkeit vermehrendes Pflanzenpacket im Gebirge, außer seinen Sachen u. Botanisirtrommel (von meinem Eintritt in Böhmen an bis zu meinem Austritt wieder wuchs in 4–5 Tagen meine Mappe so, daß sie etwa (wenigstens) 1 Fuß stark geworden war, wo jedes Blatt besetzt war, und die Kapsel auch voll) herumzuschleppen u. über Berg u. Thal zu tragen hat. Man bekommt nicht gerade Lust, noch mehr mit zu nehmen, so sehr Alles lockt. Dabei weiß man gar nicht, was man Alles hat. So wunderte ich mich, so sehr wenig von Gnaphaliuml norvegicum und besonders von Gnaphalium supinum etc. etc. zu haben, was doch überall häufig war. Manches, was Du wünschtest, besonders Lycopodium complantatum kann ich Dir beim besten Willen nicht geben, da ich von diesem z. B. am Bieberstein, trotz allen Suchens, nur 2 Exemplare fand, ebenso von Pyrola chlorantha nur 1 schlechtes Exemplar am Zobten, etc. Lycopodium complanatum sieht übrigens Deinem Lycopodium Chamaecyparissus sehr ähnlich, nur ist es in allen Theilen stärker u. größer u. hat weniger kürzere u. etwas || dickere Ähren, aber doch ist es hinsichtlich zu unterscheiden; Lycopodium Chamaecyparissus ist weit zierlicher u. schönerm. Polypodium alpestre ist, wie Du bemerken wirst, Aspidium filix femina sehr ähnlich u. leicht damit zu verwechseln. Einzelne Bemerkungen habe ich Dir auch auf die Zettel geschrieben.

Einzelne Sachen habe ich erst jetzt gefunden, ohne gewußt zu haben, daß ich sie mitgenommen, z. B. ein paar Exemplare von Vaccinum ulignosum u. (wie es mir scheint, auch weil ich bei Dir, glaube ich, einmal so was sah) Empetrum, aber nicht blühend u. nur ein kleines Exemplar. – Was ich für Arabis alpina Dir schrieb, hat sich in Arabis arenosa (oder Halleri?) aufgelöst; ich habe mich schändlich geärgert, als ich den Irrthum merkte (NB. ich hatte es dort nicht gemerkt, da n Arabis alpina mir dort angegeben war u., was ich in der sächsischen Schweiz als Arabis arenosa (u. richtig) bestimmt, wesentlich anders aussieht. – Epilobium origanifolium ist Epilobium alpinum geworden; ob dennoch Epilobium origanifolium dabei ist (ich glaube) überlaß ich Dir zur Entscheidung.

Von Saxifraga muscoïdes habe ich leider nur varietas moschata mitgenommen. Wegen der Etiketten bitte ich Dich, dem Namen später noch den Autor zuzufügen.

Es will mir augenblicklich nichts mehr einfallen; also Eile ich zum Schluß. Von jetzt bis Ostern wird keine Botanik mehr getrieben, das plichtmäßige Oxen hat bereits seinen Anfang genommen. Daher ist es mir sehr lieb, daß ich Dein herrliches Mikroskop nicht hier sehe u. haben kann, Deine Abbildung sehe ich alle Tage an! Wer doch auch so viel Zeit hätte! Wer doch auch schon Student wäre! – – –

Bitte, gieb mir bald wieder Nachricht von Dir u. erzähle recht viel. Den K. Müller werde ich mir zu Ostern wahrscheinlich anschaffen, bis dahin muß ich Moose Moose, Moosstudium Moosstudium sein lassen. Aberst denne! –

Herzlichen Dank für Deine früheren Zeilen u. Begleitung, Weber soll seinen Antheil erhalten, wenn ich ihn sehe. Wo der „Chinese“ jetzt steckt, weiß ich nicht; Emil ist hier u. grüßt, sowie alle Anderen.

Du frägst „was ist denn Karl O.?“ – Karl Osterwald ist das 3te Kind des Herrn pp. Osterwald zu Merseburg, seit dem 15ten Juni 1853 auf der Welt. – Osterwald läßt grüßen u. will vor Weihnachten noch an Dich schreiben. – Zierhold hat sich sehr geändert: – er taugt schon wieder! – sed taceamus! Eichhoff u. Meier sind glücklich durch u. – Gott sei Dank – fort. Nun Adieu,

es grüßt Dein treuer Freund E. Weiß.o

a eingef.: jetzt; b eingef.: u. unbedeutend; c eingef.: so; d eingef.: schon lange; e eingef.: die niederen Parthien u.; f eingef.: wieder; g gestr.: sehr; eingef.: weit; h gest.: Du; eingef.: ich Dich bitte; i gest.: zu; j gestr.: xxx Xxx; k gestr.: nur; l irrtüml.: Gnaphatium; m eingef.: Lyc. Ch. … u. schöner; n gestr.: sie; o Text auf dem linken Rand von S. 4, um 90° gedreht: es grüßt … E. Weiß.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
12.10.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 16627
ID
16627