Ernst Weiß an Ernst Haeckel, Merseburg, 24. Mai – 7. Juni 1853
Merseburg 24/5 53.
Lieber Häckel!
Ein banges Stillschweigen ruht zwischen uns! Beängstigend drückt es auf meinen Geist, meinen Sinn, mein Herz, meine Gefühle!! Nein!!! nicht länger halte ich es aus!!!! – Ich durchbreche das rabenschwarze Dunkel des finstren Schweigens – – , um nur ein kleines Strahlenbündel (denn nach der Undulations-Theorie kann man nicht von einem einzelnen „Strahl“ reden) – – – ein kleines Strahlenbündel jenes leuchtenden Lichtes der freundschaftlichen Unterhalten [!] hineinzuwerfen in die mich düster umgebende Nacht, – – – – aufzuhellen nur ein wenig den rußfarbnen Schatten der – , nein des, – nicht doch der – – – – – ach Gott so geht’s, wenn man sich zu sehr in poëtischen Ergüssen zu ergießen erkühnt, da kann man bei nächster Gelegenheit das rechte Wort nicht finden, das noch einen gehörigen Trumpf dem Ganzen aufzusetzen erkiesta werden sollte. Aber schade ist’s doch, daß ich nicht weiter konnte, ich hätte zuletzt noch einen Bogen voll Ausrufungszeichen u. Gedankenstriche voll gekriegt und das hätte doch nach etwas ausgesehen! – So muß ich nun freilich prosaïsch fortfahren. Doch wie Werther schon sehr rührend und treffend sagte: „ein unausstehlicher Mensch hat mich unterbrochen, meine Thränen sind getrocknet, ich bin zerstreut!“ – so sage auch ich: morgen ein Näheres! –
Vorher jedoch möchte ich noch ein Wörtchen mit Dir sprechen und so ergreife ich noch einmal die Feder, vorzüglich um Dir die Leviten zu lesen von wegen dieserhalb, daß Du nichts habest von Dir hören lassen, sodann auch um Dir [!] etwas zu fragen und Dich [!] etwas zu erzählen. Das Erstere indeß will ich lieber doch unterlassen, und zwar || erstens, weil ich viel zu gut bin, so was ordentlich zu können, und zweitens, weil es mir doch bei Deinem verhärteten, verfrorenen, inkrustirten Herzen nichts helfen würde. – Das Zweite jedoch will ich unternehmen „in Hoffnung, daß Du Dich wohl befindest, daß Du in Würzburg glücklich angekommen seist, daß Du unsre Viscum-Sendung erhalten habest etc.“ – Aber heute? – da könntest Du wohl lachen. Nee, Theierschter, so haben wir nicht gewettet. Ich halte mich an Werther. – –
25/5 53.
Es kann mich ordentlich ärgern, wenn Einer sagt, man müsse es finden, man könne es gar nicht fehlen, und man sich doch seit 3 oder 4 Jahren Xmale abgequält hat, b es nicht zu verfehlen und nichts finden kann! Carex obtusata – wo heißt? ich sage: wo?! – das wäre denn doch zum Verzweifeln, wenn ich dies Jahr, und wahrscheinlich das letzte Jahr, indem ich danach gesucht haben werde, wieder nichts gefunden haben sollte. Wenn es mir wenigstens so ginge, wie mit Carex dioeca [!], das ich ebenso oft am Bienitz etc. vergeblich gesucht habe u. endlich unerwartet an einem ganz andern Standort aufgefunden habe (bei Eilenburg)c. Carex dioeca, sowie andre Sächelchen sollst Du später erhalten, da es bis jetzt so blutwenig ist, daß es keine 3 sgr Porto Werth hat. – Von Phanerogamen habe ich in diesen Ferien blos noch Salix Caprea (die vermeintliche vorjährige Salix phylicifolia) gefunden und Salix nigricans, wobei ich jedoch auch noch ein bescheidenes Fragezeichen mache, obwohl die Blätter gegenwärtig bereits schwarz geworden sind. Von Moosen habe ich bis jetztd bestimmt: Polytrichum juniperinum, Bartramia pomiformis, ein sehr nettes Ding. Ich habe zwar noch verschiedenes Andre gefunden, bin aber theils noch ganz im Dunkeln, theils noch nicht im Hellen damit. Vielleicht sind ein || paar Dicranum-Arten dabei, vielleicht auch Phascum cuspidatum varietas piliferum; das letztere sieht aber so ganz anders aus als Phascum cuspidatum, daß ich es noch gar nicht dafür halten kann.
Übrigens komme ich jetzt gar nicht zum Bestimmen, weil die Zeit jetzt förmlich eingetheilt ist, wenigstens der Pensionäre. Osterwald hat bei uns nämlich (von wegen Abiturienten-Examen, Leichtsinn, Durchfall etc.) Studirstunden eingerichtet, wonach man täglich seine freie Zeit auf lateinische, griechische und andre nützliche Arbeiten zu verwenden (wenigstens moralisch) gezwungen ist. Ich bin daher hier noch gar nicht botanisiren gegangen. Du siehst übrigens hierbei zugleich, daß es auf der Domschule immer hübscher wird. Sonntags muß das Pennal seit Ostern nun wirklich mank de Kerche [!]; Abends um 9 Uhr muß es zu Hause sein, seit Pfingsten (vorher erst von 6 Uhr an, dann von 8 an); dazu muß der Pensionär täglich um 5 Uhr früh aus dem Bette: ’s ist rein um zu verhimmeln! Sed haec hactenus!
5/6 53.
Es ist seither wieder mancherlei Erwähnenswerthe passirt, was der Reihe nach wiedergekaut werden soll. Erstens haben Weber und ich uns zur Abwechslung ennuyrt, daß – doch das wollt’ ich ja nicht noch einmal schreiben. – Also Weber und ich; was mag das bedeuten? Daß wir zusammen botanisiren gewesen sind und zwar am Bienitz, aber wieder nichts gefunden habene, wenigstens nichts Nennenswerthe, ich gar nichts Neues, Weber nur Einzelnes. Daher war denn auch unsre Laune sehr rosenfarben u. wir ennuyrten uns auch in verschiedne andre Gegenstände, auf die wir im Gespräche zu sprechen kamen, z.B., – doch ich wäre bald wieder heraus geplatzt. Man muß sich allerdings bisweilen auf den Mund schlagen, wenn man einmal ungerade gerade sein lassen will. – – Eins worum ich Weber stark beneide, ist Orchis Morio mit rein-weißer Blüthe, aber es war nur einmal nur in einem Exemplar vorhanden. Mir ist noch eine merkwürdige Form von Carex praecox aufgestoßen im Bienitz mit einer einzigen Ähre und ganz ohne weibliche Ähren oder Blüthen. Das wird halt’s Ganze sein, was mir aufgestoßen ist. Doch nein. Ein famoses Exemplar von Tilia parvifolia, in welche verschiedene Hölzer von einem naturliebenden Forstmenschen eingekeilt sind, um sich leicht in das schattige, grüne, lispelnde, duftende, Blätterdach f begeben und sich dort poëtischen Ergüssen, Gedanken, Gefühlen, Anschauungen hingeben und über die || gewöhnliche, profane, gemeine, gefühllose Welt hinwegsetzen und sie mit vernichtender Verachtung aus der luftigen Höhe des einsamen Baumgipfels herab strafen zu können. Du kannst Dir leicht vorstellen, wie g das Wetterglas unserer Laune durch diesen Fund u. diesen Genuß gleich um verschiedne Zoll stieg, so daß es jetzt noch mehr als Sonnenschein zeigte.
7/6 53.
Jetzt befällt mich aber eine wahre Wuth, Dich was zu fragen und überhaupt mit Manchem über Dich herzufallen, und ich merk schon, daß ich gehörige Krakelfüße zu machen anfange. Der Brief soll aber auch nun bald fort; also schnell heraus mit dem, was noch zu sagen ist. – Du erinnerst Dich vielleicht noch meines Projektes von wegen Reise in diesem Jahr (!) und zwar von wegen Reise ins Riesengebirge (!!); das scheint mir förmlich etwas werden zu wollen oder sollen (!!!), und dafür bin ich Dirh ganz alleine als dem ersten Urheber und Anstoßgeber Dank schuldig (!!!!). – Freilich will ich noch nicht zu zeitig triumphiren; aber so merkwürdig günstig hat bei mir noch keine Reise nebenher ausgesehen. – Nun also, alter Junge, da wollte ich Dich so nur ein bischen um Rath fragen, wo was wächst u. s. w. Du weißt, wenn das Wetter günstig ist, wollte ich, z. B. an den Teichen, Schneegruben, Koppe je nachdem 1, 2 Tage verweilen. Nun bist Du doch schon erfahren; ich bin ein armer Unwissender; also laß mir von dem reichbesetzten Tische Deines Wissens und Gedächtnisses ein paar Brosamen abfallen. Also erstlich, wo würde zu rathen sein, sich länger als man so im Fluge thut, aufzuhalten? zweitens, wo steht dies oder jenes? z. B. wo hast Du Listera cordata, Pyrola …, Viola biflorai, Anemone alpina et narcissiflora, Ranunculus aconitifolius, Primula minima, Luzula spicata, Fumaria capreolataj, … etc. etc. etc. …– Moehringia muscosa gefunden?? Was gibt’s sonst für Standorte oder nicht Standorte? Wo war auch Dein Sempervivum … her? Standorte notiren, aus botanischen k Classikern, kann ich diesmal nicht, da ich keine flora montium Gigantum habe. Vielleicht ist dies auch recht gut; aber man weiß dann auch nicht, wo man zu suchen hat und läuft und taumelt an manchem Standort vorbei, ohne was zu denken. – Eine Reiseroute werde ich, denke ich, von meinem Onkel in Berlin gemacht bekommen; einen Reisgefährten? – ja wer machte mir den! – das ist das Einzige, was mir manchmal die ganze Sache verbittert, daß ich so ganz mutterseelenallein ohne fühlendes Geschöpf, das sich mit mir freuen und plagen und ärgern und was sonst soll, in diese riesen-schöne Natur hinausstolpern soll! – Ich gebe mir aber auch gar keine Mühe mehr, jemanden dazu zu animiren, mit mir Stromer herumzustromern; da obenein es ein Bruder Studio || doch nicht sein könnte, weil nämlich unsre Ferien, wie wir hören, aller Wahrscheinlichkeit zur gewöhnlichen Zeit fallen werden und nicht, wie wir glaubten, zu Michaëlis geschlagen werden. Da nun ein Bruder Studio, auch wenn l er Geld und Lust hätte – und Herablassung genug, um mit einem Pennale eine Reise zu machen, doch viel zu eifrig dem ernsten Studium der Wissenschaften hingegeben ist, so – muß das Pennal halt alleine leichtsinnig sein. Aber bitte! – Wenn Du also so unendlich gütig sein wolltest, Dir einmal ein Stündchen von den ernsten Studien abzuknapsen und mir m Antwort auf obige Fragen ertheilen, so n würde ich natürlich aus vollem Herzen Dir – dies vor Mitte Juli zu thun rathen. – Was der Gedankenstrich sonst andeuten wolle, werde ich dem Gedankenstriche selbst überlassen; ich brauche Dir blos zu versichern: mein Herz würde dann (wenn Du antwortest) ganz – Gedankenstrich sein. .
Kennst Du etwa einen sogenannten Führer durch das Riesengebirge, nebst Karte, der und die zu empfehlen wäre? Ich halte soo etwas doch einigermaßen fürp nöthig. Das Letzte endlich, worüber ich noch nicht im Klaren bin, ist, wie weit die Reise (vorausgesetzt, daß das Geld reicht, ein Punkt, worüber ich noch ziemlich oder vollständig im Unklaren bin) auszudehnen sei. Wollte man z. B. so etwas holen, wie Saxifraga Aizoon, so müßte man freilich nicht blos die riesigen Höhen, sondern auch das gesenkte Gebirge besuchen, u. dann käme man wohl gar auf horrible Gedanken, wie: es wäre doch hübsch, wenn Du Cerastium alpestre und am Ende gar Hacquetia Epipactis auch noch holen könntest; – doch genug, das wäre fauler Schwindel, verbietet sich auch von selbst. –
Zuletzt will ich Dir noch erklären, wie Du mir zur Reise verholfen hast oder genauer haben wirst. Du hast also in Berlin gegen meinen Onkel oder auch Tante von dem Projekte, das ich Deiner schweigsamen Brust vertraut hatte, geplaudert, magst vielleicht auch dies oder jenes dazugesetzt haben. Kurz diese (nämlich Weißens aus Berlin) erzählen bei ihrem Besuche hier in Gegenwart meines Bruders davon, so daß ich allerdings einen ungeheuern Schreck kriegte; denn ich hätte mich nimmermehr mit dem Plan heraus getraut. Nun war aber die Bulle u. Bombe geplatzt und ich mußte suchen, daraus Vortheil zu ziehen. Ich habe || nun zwar selbst keinen gezogen, sondern er ist mir von selbst ins quasi Maul geflogen; doch das kommt auf eins heraus. Also an Pfingsten hatte mir mein Bruder (der mittlerweile wieder vergessen hatte, was damals geschwatzt worden war) ganz im Allgemeinen das Geld oder einen Beitrag zu einer Reise für dies Jahr versprochen. Da platzte ich denn sofort, weil ich glaubte, er verstehe darunter die schlesische Reise, mit dem Plan heraus, der mir schon so lange im Herzen gelegen. Vielleicht wäre es wieder nichts geworden, wenn nicht schon unterdessen abermals mein Onkel überraschend dazwischen geraten wäre. Ich hatte nämlich von ihm schon eine „Andeutung“ erhalten, daß er mir mit werde unter die Arme greifen, d. h. von wegen des „Besten“ seinen oder einen Beitrag liefern. – Unter solchen Umständen wäre es doch jedenfalls bretsdumm von mir, wenn ich mich gegen diese Reise irgend sperren wollte! – Sed sat sit. –
Du wirst Dich schon bedeutend gelangweilt haben, ich kann Dir aber aber nicht helfen. Wenn ich einmal aufs Reisen komme, so stehe ich ein dafür, daß ich nicht das allerlangweiligste Zeug, was außer mir keinen Menschen interessiren kann, hinschmiere, und dann noch dazu so schlecht! –
Der schöne Emil war am Sonntag hier; er und Weber grüßen, sie werden bei der nächsten Sendung schreiben, die freilich noch ziemlich hinausgeschoben werden wird, wenn wir, wie Du siehst, so gar wenig finden. – Die thüringer Moose, wie ich heute erfuhr, sind noch nicht einmal bestellt von Lüben. Das T … ! – ||
Hutchinsia petraea hattest Du schon von mir bekommen?
Lebe wohl, vergiß mir [!] nicht, schenke mich [!] Dein Angedenken, und – einen Brief. Darum bittet
Dein alter
Weiß
Osterwalds Garten blüht sehr schön. – Da fällt mir ein, ein Trauerfall hat sich ereignet: Dein Dompfaffe ist schmählich ums Leben gekommen; eine Katze hat ihn gefressen. Der Tod ist ihr geschworen.
a gestr.: erkoren; eingef.: erkiest; b gestr.: etwas zu finden; c eingef.: (bei Eilenburg); d eingef.: bis jetzt; e eingef.: haben; f gestr.: xxx; g gestr.: unser Baum; h dreifach unterstrichen; i eingef.: Viola biflora; j eingef.: Primula … capreolata; k gestr.: xxx; l gestr.: so Ferien zur nu; m gestr.: obige; n gestr.: wäre; o korr. aus: ihn; p eingef.: für