Friederici, Erna

Erna Friederici an Ernst Haeckel, Berlin, 15. Februar 1919

Berlin W 57 | Bülowstr. 73

15. Febr. 19

Mein hochverehrter Herr Professor Haeckel!

Wieder naht sich Ihr Geburtstag, und ich möchte den Tag nicht vorübergehen lassen, ohne Ihnen zu zeigen, wie ich nie aufgehört habe, Ihrer in steter Dankbarkeit zu gedenken. Möge das neue Lebensjahr Sie vor Leiden jeder Art nach Möglichkeit bewahren. Auch Ihr sonst so stilles Jena wird durch die nach Weimar geflüchtete Nationalversammlung gewiß || etwas unruhig geworden sein. Doch werden Sie sich in Ihrem hohen Alter um die böse Politik wohl nicht mehr viel kümmern, sondern in Ihrem friedvollen Studierzimmer den Erinnerungen Ihres Lebens nachgehen.

Gerade in der letzten Zeit, nachdem man endlich ein freieres Wort wagen kann, habe ich meinen früheren Schülerinnen, (18–21 Jahre) von denen die besten sich zu einem Bund zusammengeschlossen haben, öfter von Ihnen gesprochen, von Ihrem || Leben und Wirken erzählt, aus Ihren Schriften vorgelesen und die prächtigen Kunstformen und Wanderbilder betrachtet. Da hätten Sie das Entzücken in den jungen Gesichtern sehen müssen, wie sie sich in diese Schönheiten vertieften, und hören, welche verständigen Fragen sie stellten. Und als sich kürzlich ein Gespräch über Religion und Kirche entwickelte, da erkannte ich, daß die Mehrzahl der jungen Mädchen auf dem Boden unserer Weltanschauung steht oder, noch von Zweifeln erfüllt, ihr nahe kommt. || Ohne daß ich je mit direkten Worten für den Monismus gewirkt hätte, sind sie zu ihm gelangt durch das gemeinsame Lesen unserer großen Denker und Dichter, besonders Goethe, die freie Aussprache, die Beobachtung der Natur und Beschäftigung mit der Kunst. In ihren Herzen glüht die Begeisterung für alles Wahre, Gute und Schöne trotz des Krieges und seiner Folgen. Mir ist, als stände mein lieber Vater neben mir, mich mit seinen gütigen Augen anblickend und sagend: so ist es recht, daß du auf meinen Wegen weiter wandelst und an den Sieg des freien Gedankens glaubst.

Ich weiß, Sie mein verehrter, väterlicher Freund freuen sich mit mir, und darum schreibe ich Ihnen dies.

Mit den herzlichsten Wünschen und Grüßen – auch von meiner Mutter – bin ich in alter Treue und Dankbarkeit

Ihre Erna Friederici

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
15.02.1919
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1592
ID
1592