Erna Friederici an Ernst Haeckel, Steglitz, 16. November 1911

Steglitz, Heesestr. 18

16.II.11.

Mein hochverehrter, lieber Herr Professor Hackel!

Ihr so lieber, letzter Brief vom 28.9. bereitete mir eine ganz besondere Freude, weil er zufällig an meinem Geburtstage in meine Hände gelangte und ich nun mein neues Lebensjahr recht glücklich beginnen konnte. Mein Leben, das mir viele Enttäuschungen brachte, besonders durch geliebte Menschen, wird verklärt durch die Erinnerung an die Rom-Tage. || Wie oft – in schweren Stunden – habe ich wieder Mut gefaßt – wenn ich auf Ihr Bild sah vom Jahre 1904, das über meinem Schreibtisch hängt, wenn ich in Ihren Büchern las, oder a die kostbaren Briefe und Karten, die Sie mir sandten – zur Hand nahm – wenn ich schließlich meine Rom-Reise zur Hand nahm und wieder die unvergeßlichen Stunden mit Ihnen durchlebte. Ihre unerschütterliche Güte, Ihr rastloses Streben nach Wahrheit, Ihre Freude an allem Schönen soll mir immer Vorbild sein. ||

Für Ihren guten Wunsch, ich möge in der sozialen Arbeit Befriedigung finden, danke ich herzlichst, aber ich zweifle, daß er sich erfüllt. Das soziale Elend ist so groß, Unwissenheit und Minderwertigkeit so maßlos verbreitet – wo anfangen, zu helfen? Was bekämpft man zuerst? Die niedrigen Löhne, die schlechten Wohnungen, die Krankheiten, Trunksucht, Verderbtheit? – Was nützen schließlich die Säuglingsfürsorgen, wenn sich der Kleinkinder nicht angenommen wird? ||

Wie viel Mühe und Arbeit haben wirb sozial Arbeitenden – wie sehr leidet die eigene physische und psychische Widerstandskraft durch das Miterleben des Elends unserer Menschenbrüder – und wie wenig Lohn haben wir. Lohn in dem Sinne, daß man sieht – es ist. besser geworden durch unsere Hilfe. – Und doch – Tropfen höhlen den Stein – von hundert Samenkörnern kann eins aufgehen und sich herrlich entfalten. –

So – unter emsiger Arbeit, manchen Freuden und häufigen Enttäuschungen fließt mein Leben hin || und wenn es nicht aufhört – so ist es nicht unnütz gewesen. – – – –

Frau von Crompton erzählte mir freudig von den schönen Geschenken, die Sie ihr sandten – ich war jedoch inzwischen noch nicht bei ihr – seit kurzem ist sie wieder erkrankt und hat ihr der Arzt jeden Beuch verboten. Es ist wirklich traurig, die Krankheit hört bei den lieben Menschen nicht auf, alle Beide || sind sehr anfällig. –

Und wie geht es nun Ihnen? Hat Baden-Baden den erwünschten Erfolg gehabt? Wie schmerzlich muß gerade Ihnen, der Sie so in unserer Mutter Natur zu leben gewohnt sind, der Stubenarrest gewesen sein!

Von der Berliner Ortsgruppe des Deutschen Monisten Bundes kann ich Ihnen nichts mitteilen – wenn möglich gehe ich zu dem || Vortrag am Bußtag – falls ich von der geplanten Wanderung mit meinem Jugendklub durch den Grunewald nicht zu ermüdet bin. – Mit den einzelnen Mitgliedern gewinne ich leider keine Fühlung. Gern lese ich den Monismus und die Sonntagspredigten.

Doch nun verziehen Sie, daß ich solange Ihre Zeit in Anspruch nahm und nehmen Sie herzliche Grüße und die besten Wünsche von Ihrer dankbaren

Erna Friederici

und Eltern

a gestr.: in; b korr. aus: die

Brief Metadaten

ID
1570
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
16.11.1911
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
13,3 x 17,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1570
Zitiervorlage
Friederici, Erna an Haeckel, Ernst; Berlin-Steglitz; 16.11.1911; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_1570