Erna Friederici an Ernst Haeckel, Südende, 21. November 1910
Südende,
Mittelstr. 3, 21.11.10.
Mein hochverehrter Herr Professor Haeckel!
Über Ihren Vortrag: die Grenzen der Wissenschaft habe ich mich recht gefreut und ihn mit großem Interesse gelesen. Dadurch, daß er jetzt im Freidenker abgedruckt wurde, ist er nun erfreulicherweise allen Gesinnungsfreunden zugänglich geworden. ||
Von Frau von Crompton, die ich viel sehe und die mir eine liebe Freundin geworden ist, höre ich, daß es Ihnen gesundheitlich gut geht, hoffentlich wird das nun eingetretene graue Novemberwetter keinen ungünstigen Einfluss ausüben. Ich fühle mich um diese Jahreszeit nie so ganz wohl, denn ich leide unter der fehlenden Sonne im allgemeinen || jedoch können meine Eltern und ich in gesundheitlicher Beziehung zufrieden [sein], nur die Nerven streiken manchmal. Schuld der Großstadt mit ihrem Lärm. Ich muss täglich in die Stadt fahren, da ich auf sozialem Gebiet tätig bin – eine Arbeit, die, so schwer sie ist, mich doch befriedigt. Nur fehlt mir oft die Kraft und Zeit, Vorträge zu besuchen, die der Monistenbund, freireligiöse Gemeinde etc. veranstalten – so konnte ich auch leider || Prof. Wahrmund nicht hören.
Die häßlichen Geschichten im Monistenbund haben mich so verstimmt, daß ich beabsichtige, dem Bunde untreu zu werden – – dieser Herr Vielhaber ist mir von Anfang an unsympathisch gewesen – jetzt redet er sich wieder aus; beweisen läßt sich doch nichts mehr. – – Aber traurig bleibt es, wenn unter Gleichgesinnten derartige gegenseitige Anklagen erhoben werden – darüber freuen sich nur die Gegner.
Mit herzlichen Wünschen für Ihr Wohlergehen und vielen Grüßen von meinen Eltern
Ihre dankbare,
Sie hochverehrende Erna Friederici