Siebold, Carl Theodor Ernst von

Carl Theodor Ernst von Siebold an Ernst Haeckel, München, 29. November 1876

München den 29/11 76.

Mein theurer verehrtester Freund!

Obgleich ich Dir für Deine freundlichen Gesinnungen, mit denen Du Dich im vergangenen Frühjahr gegen mich ausgesprochen hast, meine Freude und Dank noch nichta erwidert und zu erkennen gegeben habe, sammelst Du abermals feurige Kohlen auf mein Haupt, um meinen weißen Haarwuchs noch vollends zu versengen, indem Du mich mit Deiner dritten Auflage der Anthropogenie so gütig überrascht hast. Empfange für dies schöne Geschenk meinen verbindlichsten Dank. Ich nahm das Werk sogleich mit dem Aufschneide-Messer vor und las Deine Vorrede, suchte die Stellen auf, die Du darin zum Nachlesen des Textes empfiehlst, was ich mit größtem Interesse ausführte, so daß ich fast das Schlafengehen vergessen habe. Fast wäre ich auch wieder erschrocken über die Schilderung Deiner Gegner, die Du allerdings als Pseudo-||Darwinianer zu bezeichnen berechtigt bist; auch der noch fatalere Goethe-Feind ist ja, wie er es verdient hat, von Dir abgefertigt worden. Woran liegt es aber, daß ich Deine Citate pag. XXX (vid. Vorwort XXII) und pag. 682 (vid. Vorwort XXIII) nicht finden konnte?

Dein Zusatz (pag. 743, nr. 48) rief mir ein Erlebniß ins Gedächtniß, was ich längst vergessen hatte. Nachdem nämlich 1856 meine erste Schrift über Parthenogenesis erschienen war, predigte ein ziemlich aufgeklärter katholischer Geistlicher, wahrscheinlich an dem hohen Feiertage der unbefleckten Empfängniß der Jungfrau Maria, und suchte seiner Gemeinde gegenüberb diesesc Mÿsterium eind glaubwürdigeres Ansehen zu geben, indem er von der Kanzel herab auf einen Naturforscher einging, der neulich gezeigt habe, daß ja auch unter den Insekten eine solche jungfräuliche Fortpflanzung vorkomme. Bald darauf erhielt dieser Illuminat von seinem bischöflichen Vorstand einen Rüffel mit dem Zusatz: wir brauchen keinen Beistand eines Naturforschers, || wir wollen Wunder haben.

Sehr gefreut habe ich mich neulich, als ich einen Besuch von dem Edouard van Beneden jun. aus Lüttich erhielt, welcher schon vor mehreren Jahren einmal hier war und bei mir mit meinem jungen Schüler Willemoes-Suhm zusammengetroffen war. Als wir beide in Gegenwart des aus der bigotten Universitäts-Stadt Löwen eben entlassenen jungen Naturforschers vielfach über Darwinismus uns unterhielten, erstaunte derselbe über alles, was wir sprachen, unde hatte sich wahrscheinlich in der darauffolgenden schlaflosen Nacht alles, was er gehört, ruhig überlegt, und als derselbe am anderen Tage wieder unsere Gespräche mit vermehrtem Interesse anhörte, rief er glücklich aus: „was werden meine Eltern sagen, wenn ich von meiner naturwissenschaftlichen Reise, auf der ich mich noch weiter ausbilden soll, als Darwinianer zurückkehre.“ Dies letztere war er dann auch wirklich geworden, worüber ich mich bei seinem letzten Besuche außerordentlich habe erfreuen können. ||

Was Du auf pag. XXIII von den Philosophen sagst, welche über und gegen den Darwinismus sich aussprechen und dabei „alle jene ungeheuren Fortschritte der Erfahrungs-Wissenschaften“ ignoriren, ist mir aus der Seele gesprochen, da ich darüber selbst Erfahrungen gemacht habe. Wie vor einiger Zeit der kleine Huber die Lehre Darwins kritisiren und abfertigen wollte, kam er noch vorher zu mir, um sich über das Wesen und Aussehen einer Ascidie, undf eines Amphioxus einiger Maßen einen Begriff zu g verschaffen, wahrscheinlich ist ihm dieser Gedanke noch gekommen, nachdem er schon sein Manuskript fertig hatte. Leider hat das Publikum, zu dem er sich in seiner Polemik wendet, ebensowenig Verständniß von dem Stoff, um den es sich handelt, wegen des mangelhaften naturwissenschaftlichem Schulunterrichts unserer „gebildeten“ Stände, wie könnte sonst der Spiritismus gerade bei den höheren Ständen, ja, höchsten Ständen einen solchen Eingang finden.

Indem ich hier schließen will, um Dich mit meinem Geplauder nicht zu langweilen bitte ich Dich nur noch, mich Deiner lieben Frau bestens zu empfehlen.

Dein treu und freundlichst

ergebener

C. v. Siebold.

a eingef.: noch nicht; b korr. aus: über; c korr. aus: diesen; d korr. aus: eine; e eingef.: und; f eingef.: und; g gestr.: machen

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
29.11.1876
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15325
ID
15325