Delle Grazie, Marie Eugenie

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 28. Dezember 1897

Wien, 28.12.1897.

Hochverehrter Meister!

Es ist lange her, dass ich die Feder in der Hand hatte, um Ihnen zu schreiben – aber ich darf mit gutem Gewissen sagen, dass Sie diesen Brief auch ohne Ihre mich ebenso überraschende als beglückende Sendung erhalten hätten. Die neunte Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ – meiner Bibel und der vieler Tausende! Als ich aber, durch Ihre || lieben Zeilen aufmerksam gemacht, darin noch gar meinen Namen fand – da traten mir die heißen Thränen in die Augen …

Um dies zu verstehen, müssten Sie die Andacht kennen, mit der ich Tag um Tag in meiner Stube über diesem Buche saß; begeistert, grübelnd, athemlos oft, keinen anderen Führer zur Seite, als meine warme Jugend und die tiefe Stimme der Wahrheit in mir, die sich ganz an Ihre Seite stellte! Ich habe Zeichnungen gemacht, und um nur ja ganz bei der Sache sein zu können, viele Stunden in der paläontologischen || Sammlung unseres naturhistorischen Museums verbracht, – um immer wieder und überzeugter, zu dem lieben Buche zurückzukehren. Und nun – enthält es meinen Namen! Sie schenken mir in dieser Fassung einen Juvel, der durch mein Leben leuchten wird – tausend Dank! –

Wie es uns in Gardone u. Wörishofen erging, glaub’ ich Ihnen mitgetheilt zu haben; seit wir in Wien sind, hat sich wenig mehr verändert; nur unsere Adresse ist jetzt eine neue: Colloredogasse 4. I. Stock. Von den Karten, die Sie, wie Ihr Brief mittheilt, aus Russland an uns gesandt, hab’ ich eine einzige, aus || Tiflis datirte erhalten. Der russische Postschlendrian wird wissen, wo die anderen geblieben sind … Herzlich leid thut es mir, dass die Todesfälle und Krankheiten in Ihrer Familie einen so düsteren Schatten auf Ihre sonnige Schaffensfreude warfen; und dass Sie nicht, wie im Vorjahre, Italien in Aussicht haben. – Ich war fleißig, und hab’ ein Drama vollendet, das wahrscheinlich noch heuer zur Aufführung kommt. Wie das mitfolgende Bild letzter Aufnahme (vor 4 Wochen) Ihnen zeigt, befind’ ich mich wohl. Das Original bittet, es dem verehrten Meister zu Füßen legen zu dürfen. Zwei Feuilletons, darunter ein Vortrag, den ich in der Grillparzergesellschaft hielt, folgen mit. Und nun – ein schönes Neujahr – und mit den herzlichsten Grüßen Prof. Müllners die verehrungsvollen Ihrer

M. E. delle Grazie.a

a weiter am Rand v. S. 4: Neujahr – und... M. E. delle Grazie.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
28.12.1897
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15
ID
15