Richard Semon an Ernst Haeckel, Prinz-Ludwigshöhe, 13. März 1902
Prinz-Ludwigshöhe, 13/III 1902
Hochverehrter Herr Professor.
Ich schreibe Ihnen heute in einer rein persönlichen Angelegenheit und ich tue es mit einigen Gewissensbissens, denn es betrifft eine mir unter der Überschrift „vertraulich“ gewordene Mitteilung, die eigentlich nicht für Ihr Ohr bestimmt ist, da es sich um eine für Sie geplante „Ueberraschung“ handelt. Doch würde die Überraschung so wie so keine wirkliche sondern nur eine a fictiveb sein. Denn dass Ihre Schüler Ihnen zu Ihrem 70. Geburtstag eine Festschrift dediciren werden, wird || Ihnen wie Jedermann selbstverständlich erscheinen. Andererseits habe ich besondere, wohlerwogene Gründe mich nicht an das vergebliche Geheimniss zu kehren.
Ich bin im Namen eines „vorbereitenden Comités“ durch Prof. Ziegler aufgefordert worden, mich an einer für Ihren 70. Geburtstag vorbereiteten Festschrift zu beteiligen. Diese Aufforderung habe ich unter folgender Motivierung abgelehnt:
„In Anbetracht der nahen Beziehung, in denen ich zu Herrn Prof. Haeckel persönlich und wissenschaftlich gestanden habe und noch stehe, sehe ich mich || nicht veranlasst, im Schlepptau eines vorbereitenden Comités, auf dessen Zusammensetzung ich keinen Einfluss habe ausüben können, mein Scherflein zum 70. Geburtstage meines Lehrers und Freundes beizutragen, sondern werde ihm meine Gabe, so bescheiden sie sein wird, auf eigenem Wege übermitteln.“
Ich hoffe Sie werden diese meine Weigerung um so mehr gerechtfertigt finden, wenn Sie hören, dass dem „vorbereitenden Comité“ Leute angehören, die Ihren persönlich so wenig nahe stehen wie O. Hertwig und Kükenthal, und wissenschaftliche so wenig wie Detmer, || Link etc. etc. und die zum grossen Teil den Arbeiten zur Feier Ihres 60. Geburtstages durchaus fern gestanden haben.
Ich betone aber diese selbstverständlichen Dinge, weil ich in den letzten 5 Jahren Entstellung und Verleumdung genugsam kennen gelernt habe, und es für leicht möglich halte, dass meine Weigerung Ihren auf irgend einem Umwege als neuster „Abfall eines Schülers von Ihnen“ zu Ohren gebracht werden wird.
Dieser Schlange möchte ich den Kopf schon im Entstehen abbrennen. Andererseits möchte ich Sie recht herzlich bitten Ihrerseits keine Schritte bei || den Herren zu tun. Ich würde mich jetzt unter gar keinen Umständen an dem von jenen inaugurirten Unternehmen beteiligen, und ich freue mich auf das einsame Blümchen, das ich Ihnen pflücken und überreichen will, und das Ihnen hoffentlich auch etwas Freude machen wird. Überhaupt machen Sie bitte von den obigen Mitteilungen nur dann Gebrauch, wenn Ihnen das Motiv meiner Weigerung lügnerisch entstellt zu Ihnen kommt.
Wir hoffen sehr, Sie im Laufe dieses Frühjahrs oder Herbstes in München – Ludwigshöhe begrüßen zu können. Hoffentlich geht es Ihnen und den Ihrigen || gut. Von dem Tode Ihres alten Freundes Allmers haben wir mit aufrichtiger Teilnahme gehört.
Mit herzlichsten Grüssen und Empfehlungen von meiner Frau und von mir
stets Ihr treuer und dankbarer Schüler
Richard Semon.
a gestr.: vorgestellte; b eingef.: fictive