Anonym

Anonym (Mehrere Schweizer) an Ernst Haeckel, Zürich, 20. Oktober 1914

Sehr geehrter Herr Professor!

Sie haben an Herrn Hodler einen frechen Brief geschrieben, der wiederum zeigt, wie deutsche Professoren sehr gelehrt sein können ohne den geringsten Anstand zu besitzen.

Wir kennen Herrn Hodler nicht, weder persönlich noch als Künstler, und geben wenig auf Kunst, aber viel auf Menschlichkeit!

Dieser hat nun die Art der Kriegführung Ihrer ostelbischen Junker derart ins Gesicht geschlagen, daß ein Schrei der Entrüstung nicht allein ganz Europa, sondern || die ganze Welt durchbebt; das fühlen Sie, und deßhalb sind Sie bemüht, und aufgeboten mit vielen Ihrer Collegen von den deutschen Universitäten und die gesammte deutsche Reptilienpresse, um den fatalen Eindruck dieser feigen Grausamkeiten zu verwischen, abzuleugnen und so viel als möglich die Opfer zu verleumden.

Wenn man, wie Sie, Herr Professor, von dem Krieg Nichts gesehen, aber auch rein Nichts, auf keinem Schlachtfelde war, keiner Erschießung beigewohnt, keine verbrannte Stadt und keine zerstörten Dörfer gesehen hat, überhaupt seine ganzen angeblichen || Kenntnisse nur aus der bezahlten Geschimpfe der deutschen Reptilienpresse schöpft, so hält man das „Mul“ wie wir Schwytzer sagen, und überläßt Andern das Wort, anstatt sich herauszunehmen, Diejenigen noch öffentlich zu beschimpfen, die den Muth haben, (einen in Deutschland allerdings unerhörten Muth) den augenblicklichen Machthabern ins Gewissen zu reden!

Wir sind Schweizer, bewohnen aber Belgien seit beinahe dreißig Jahren, und zwar eine Stadt nahe an der deutschen Grenze. Wir haben Belgien und seine freiheitliche Bevölkerung schätzen und lieben gelernt und sahen, wie gastfreundlich es || lange Jahre beinahe hunderttausend Deutschen Obdach und Verdienst gewährte.

Zum Danke ist dieses kleine und fleißige Ländchen von Ihrer Regierung von Junkern und Pfaffenknechten als erstes Opfer ausersehen worden, weil es männlich sein Recht und seine Pflicht vertheidigte; in der Nacht 3 – 4 August überfielen plötzlich preußische Truppen, ohne Kriegserklärung, (wie immer) unsere betriebsame Stadt; auf etwa einem Dutzend Autos stürmten vermummte Gestalten, die keinerlei Abzeichen trugen, und die Niemand zuerst || als Soldaten erkennen konnte, in die Stadt mit vorgehaltenem Revolver und besetzten alle öffentlichen Gebäude; zum Glück hat sich Niemand vertheidigt, sonst wäre, nach Ihrem angeblichen Kriegsrecht, das aber kein menschliches denkendes Wesen anerkennt, die Stadt in Brand gesetzt und die männlichen Einwohner erschossen worden!

So war der Einzug der „zivilisirten“ Deutschen in Belgien!

Die unerhörten Schurkereien Ihrer adligen Offiziere, das Gemetzel tausender der braven Bevölkerung haben wir zwar nicht mit eigenen Augen angesehen, weil es sich etwas entfernt abwickelte, wohl aber haben wir tagtäglich von Bekannten, die || zu uns flüchteten, die an ihnen und ihren Verwandten verübten Grausamkeiten schildern gehört. Das Verbrennen hunderter von Dörfern, das Erschießen der männlichen Bevölkerung, das kaltblütige, systematische Zerstören offener Städte, wie Battice, Ardenne, Dinant, Löwen, Mecheln etc. etc. etc. um Rache zu nehmen für angebliche Angriffe „aus dem Hinterhalt“ (Deutsche sprechen von Hinterhalt – in Belgien!) All dieses vergossene Blut, alle diese feigen und entsetzlichen Greuelthaten schreien zum Himmel – und Sie „gelehrter“ Herr Professor, Sie thun, als wenn Sie von All dem nichts wüßten, und disputiren || blos, ob nun die Kathedrale von Reims ganz zerstört sei oder nur halb, und „über die Achtung der Deutschen vor Kunst u. Kunstwerken“ – und wie doch Herr Hodler ein materielles Interesse habe zu schweigen!

Hören Sie doch auf mit dieser Heuchelei!

Für uns, und für die ganze fühlende Menschheit, Herr Professor, handelt es sich nicht um Kunstwerke, nicht um Kathedralen!

Es handelt sich um eine Kriegführung, wie sie in ihrer unmenschlichen Grausamkeit die Welt-geschichte noch nie gesehen hat. Dagegen || protestiren wir, und mit uns Alle rechtlich Denkende!

Man muß verrückt sein wenn man glaubt, daß man zivilisirte Nationen so behandeln kann! Verrückt durch den Größenwahn dieser Krautjunker, die zu Hause, von Jugend auf, von ihren „Leuten“ auf dem Gute, und später als Offiziere wie Götter angebetet werden, verrückt durch den Wahn dieser would-be Übermenschen der ganzen Welt ihren Willen aufzwingen zu können, verrückt wenn man als oberstes Gesetz sein eigenes Interesse, und dieses zum Hohn noch „als bitterste Not“ || hinstellt, die alles Unrecht entschuldigt – nein, keine Entschuldigung! – als berechtigt!

Kein Mensch, gelehrter Herr Professor, glaubt Ihnen oder Ihren Collegen, die die öffentlichen Vorträge halten und in zahllosen „Aufsätzen“ immer aufs neue krampfhaft „beweisen“, daß Deutschland „im Rechte“ sei!

Man muß wirklich kein Gefühl mehr für Rechtlichkeit und Redlichkeit haben, um den feigen Überfall Belgiens noch als „Recht“ hinzustellen. Da ist Ihr Alexander Harden, als „echter Deutscher“ doch offener!

Die furchtbare Wut, die bei Ihnen gegen Belgiens unglückliche Bevölkerung || herrscht, und noch genährt wird durch das tägliche Gift Ihrer Reptilienpresse, kommt wohl von dem tapfern, aber unverhofften Widerstand und dem dadurch bedingten Scheitern des ersten Kriegsplans, oder auch dadurch, daß Sie fühlen, daß Ihnen die Maske herabgerissen wurde, unter der Ihre führenden Militärkreise sich darauf vorbereiteten und lauerten auf die Gelegenheit, einen schwachen Nachbarn zu überfallen.

Daher dieses planmäßige Verleumden, diese lächerlichen Geschichten von ausgestochenen Augen, von Hinterhalt etc. etc. etc., Alles, um das deutsche Volk noch mehr || zu verhetzen und es in eine sinnlose Wut zu bringen!

Jetzt hat man ja „Schriftstücke“ „entdeckt“, die „unwiderleglich“ beweisen, daß Belgien sich mit England und Frankreich gegen Deutschland „verschworen“ habe!!

Haben Sie noch Worte?

Ist es nicht der Gipfel des Unsinns Ihrer Preßtrabanten?

Belgien, wo wir ruhig wohnten, wo kein Mensch an Krieg denken konnte, wo wir nur fürchteten, Preußen könne uns überfallen (wie es auch geschah!), wo wir aber immer hofften, trotz aller Gerüchte, die seit Jahren in der Luft || schwirrten, Preußen könne doch seine eigene Unterschrift nicht so unter die Füße treten, im Gegentheil, es würde getreu dem geschriebenen Königswort, unsere Neutralität nicht allein respektiren, sondern auch vertheidigen gegen jeden Andern – dieses kleine betriebsame Belgien soll aus seiner sichern (?) Neutralität heraus conspirirt haben gegen das allmächtige Preußen, vor dem ganz Europa zittert!?

Ein Herr Erzberger kommt nun noch und gibt ihm den Eselstritt mit zurechtgestutzten „Beweisen“ und der Hoffnung auf den rothen Adlerorden vierter Klasse!

Geehrter Professor! Bleiben Sie bei Ihren Untersuchungen über die Abstammung des Menschen , die sich ja vollauf bestätigen! Insultiren Sie nicht freie und unabhängige Männer, die den Muth ihrer Überzeugung besitzen – sogar, wenn sie materiell verlieren sollten!

Mehrere Schweizer

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
27.10.1914
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Jena
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 14702
ID
14702