Gustav Schwalbe an Ernst Haeckel, Straßburg, 21. Oktober 1903
Strassburg 21. October | 1903
Hochverehrter Herr College!
Vor einigen Tagen wurde ich in der angenehmsten Weise durch eine Sendung von Engelmann überrascht, welche die schöne neueste (5.) Auflage Ihrer Anthropogenie enthielt. Ich danke Ihnen herzlichst für dies schöne Geschenk und die freundlichen anerkennenden Worte, die Sie darin meinen Arbeiten widmen. In Ihren || Anschauungen über die nächste und nähere Abstammung des Menschen weiß ich mich mit Ihnen einig, wie Sie aus dem Ihnen in nächster Zeit zugehenden Abdruck meines in Kassel gehaltenen Vortrags ersehen werden. Der Titel desselben „Vorgeschichte des Menschen“ ist mir vom Vorstande der Naturforscherversammlung, die mich direkt zu dem Vortrage aufgefordert hat, angegeben. Ich habe aber diese „Vorgeschichte“ als „Abstammung des Menschen“ behandelt und im Wesentlichen: Mensch – Homo primigenius – || Pithecanthropus behandelt, aber auch die Affen und Halbaffen in ihren verschiedenen Gruppen kurz berücksichtigt, allerdings den Ausdruck Catarrhinen nur für die niederen Ostaffen, nicht zugleich für die Anthropoiden gebraucht. Dadurch kommt eine nur scheinbare Differenz zwischen unseren Anschauungen zustande. Mit Absicht habe ich mich in meinem Vortrage von vornhereina auf den Standpunkt der Descendenztheorie gestellt, die letztere als gegeben und bewiesen angenommenb, sie nicht weiter diskutiert.
Es schien mir richtiger, von vornherein diese Frage so zu behandeln, als wenn überhaupt die Descendenztheorie nicht mehr bestritten werden könnte, || was meiner Meinung nach ja auch sicher ist.
Im Übrigen bitte ich um nachsichtige Beurteilung. Ich werde in den Anmerkungen zu meinem Vortrage noch verschiedene Punkte bemühen, besonders mich auchc mit Klaatsch auseinandersetzen, dessen Meinung ich ebensowenig wie Sie teile.
Nur in einem Punkte kann ich Ihnen nicht ganz beistimmen, in dem Huxley’schen Pithecometra-Satz. Ich kann nicht einsehen, daß die niederen Affen anatomisch sich mehr unterscheiden von den höchstentwickelten Affen, als letztere von den Menschen. Mir will ohne den Neandertaler und Pithecanthropus der Abstand zwischen d Anthropoiden und || Mensch als der größere erscheinen; doch lege ich darauf nicht besonderen Wert. Ich habe Pithecanthropus – Neanderthaler – Mensch als eine bipede Gruppe aufgefasst und sie neben die jetzt lebenden an ein intensives Baumleben angepassten Anthropoiden gestellt, aber eine in das Miocän zurückreichende gemeinsame Wurzel angenommen; ob dies wirklich Dryopithecus ist, scheint mir noch nicht sicher. Leider sind von den Extremitäten hier allzuwenig Fragmente vorhanden, um die Frage entscheiden zu können, ob hier ein mehr indifferenter quadruped kletternder Zustand vorhanden war, der einerseits zu der bipeden mit Pithecanth || beginnenden Menschenreihe, andrerseits zu den jetzt lebenden Anthropoiden mit ihren verlängerten Armen führen konnte, oder ob diese Form so abweichende Extremitäten-Proportionen zeigt, daß man sie aus der direkten Entwicklungsbahn des Menschen streichen muß.
Ich hoffe in diesen „Extremitäten-Fragen viel von der Untersuchung von Affen-Embryonen, die ich von Hubrecht und Frau Selenka erhalten habe. Leider verfüge ich über keine Platyrrhinen. Wissen Sie vielleicht irgend eine Quelle, aus der ich Embryonen von Cebus oder Mycetes etc. beziehen könnte? ||
Ein genaues Studium von Hand und Fuß dieser Embryonen wird eine meiner nächsten Aufgaben sein.
Verzeihen Sie diesen langen Erguß! Nun zu Ihrem Wunsche um Besprechung der Anthropogenie in meiner Zeitschrift. Das Vertrauen, welches Sie bei diesem Wunsche in mich setzen, hat mich hoch erfreut. Bei der Erfüllung Ihres Wunsches befinde ich mich aber trotz meiner Geneigtheit dazu in einer formellen Schwierigkeit. Meine Zeitschrift hat bisher grundsätzlich keine Besprechungen, nur Original-Abhandlungen gebracht. Ich muß also sehen, wie ich diese Schwierigkeit überwinden kann. Mir will es am zweckmäßigsten || erscheinen, wenn ich in meiner Zeitschrift eine besondere kurze Besprechung der Abstammungsfrage bringe mit besonderer Berücksichtigung Ihrer Anthropogenie, insbesondere der Kapitel 23 u. 30. Ich weiß nicht, ob Sie sich mit dieser Art der Behandlung einverstanden erklären können.
Ich bitte Sie freundlichst, sich darüber zu äußern.
Einstweilen sende ich Ihnen gleichzeitig einen kurzen Selbstbericht meines Vortrags.
Mit herzlichstem Dank und bestem Gruß
Ihr
sehr ergebener
G. Schwalbe
a eingef.: von vornherein; b korr. aus: angesehen; c eingef.: auch; d gestr.: z