Grazie, Marie Eugenie delle

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wörishofen, 30. Juli 1897

Wörishofen, 30. Juli 1897.

Hochverehrter Meister!

Die Überschrift meines Briefes sagt Ihnen, dass wir nun doch „dahin“ gekommen sind, wohin zu gehen ich so viel Angst hatte. Aber, um jeder Besorgnis, die Sie etwa hegen könnten, gleich im Vorhinein den Stachel zu nehmen: wir sind bereits sieben Wochen hier, und die Kneippkur hat an unserem Freunde geradezu Wunder vollbracht. Denken Sie: || das rechte Knie, das er in Salò noch immer steif halten musste, um überhaupt – und wie langsam! – gehen zu können, ist hier wieder vollkommen gelenkig geworden, so dass er jetzt ganz normal, und oft über eine Stunde ununterbrochen geht. Dabei hat er sich auch schon ganz tüchtig abgehärtet, und laufen wir hier, wie all’ die übrigen Culturmenschen, gegenwärtig selbst Erzherzoge und Fürsten baarfuß in den Wäldern und auf den Wiesen umher. Das Aussehen unseres Freundes ist aber ein so prächtiges, dass ich || ihn, wenn wir am 4. August endlich wieder heimfahren, wie einen neuen Menschen nach Hause bringe. Damit glaub’ ich gesagt zu haben, was Ihre so liebevolle Theilnahme etwa interessirt. Und nun zu Wörishofen selbst. Ich wollte, ich könnt Ihnen das Gesicht zeichnen, das ich beim ersten Anblick dieser, nach unseren Begriffen total auf den Kopf gestellten Welt, geschnitten. Es war mir einfach, als wär’ ich in ein Narrenhaus gekommen, aber in Eines, wo die Narren souverän sind … Schon der Weg vom Bahnhof nach Wörishofen! || Überall baarfüßige Damen und Herren, letztere oft bis über die Kniee entblößt, baarhäuptig, mit allen möglichen Leiden und Gebresten. Es schien mir, als hätten sich die Desperados der ganzen Welt hier ein Rendezvous gegeben! Dazu die durchaus ernsten Mienen, der, in jedem Antlitz sich ausprägende Fanatismus der Überzeugung, dass, wenn irgendwo, Einem nur hier geholfen werden könne. Und der internationale Anstrich des Ganzen: Dänen, Italiener, Engländer, viele Franzosen und Deutsche, Spanier, Brasilianer, Russen, || Türken, selbst – Mohren! Und die müssen ja hier natürlich „waschecht“ sein. Nun: bis zum Fanatismus wurde ich hier allerdings nicht bekehrt, aber viele, nicht zu läugnende Erfolge, so der große, bei unserem Freunde, gaben mir zu denken, und mit gutem Gewissen könnt’ ich nicht mehr gegen die Kneippkur reden. Endlich hat ein wissenschaftlich und praktisch tüchtig geschulter Arzt und Lieblingsschüler Kneipps, Dr. Baumgarten – nach dem Tode seines Meisters jetzt die Leitung Wörishofens übernommen, u. genießt das vollste Vertrauen. ||

Wie das landschaftliche trostlose Wörishofen nach dem leuchtenden Salò und der Ideallandschaft des Gardasee auf mich gewirkt, brauch’ ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen; sowenig, als Sie gewiss voraussetzen, dass ich in Gedanken noch jetzt dort bin, und nur tief bedaure, dass wir’s ohne Sie sehen mussten. Ein blütenreicher Frühling, so sonnig und schwül, wie schon lange keiner, überstrahlte diese wahrhaft paradiesischen Gestade, und jede dort verlebte Stunde blitzt noch heute scharf und klar umrissen, im ganzen || Sonnenzauber der Erinnerung auf. Da Freund Müllner noch schwer beweglich war, musste ich meine Ausflüge allein machen. Und so streifte ich denn liebe Stunden zwischen den Vignen und Ölgärten herum, machte einsame Kletterpartien, oder sprang, als es schon wärmer wurde, in den See, dessen Wogen so wonnig wiegen und schaukeln können. Die Gesellschaft im Hôtel war die denkbar angenehmste – nur Einer ging uns Beiden immer ab, und wer das ist, können Sie ja leicht errathen! Nun || rüsten wir zur Heimfahrt, und wären so begierig, zu wissen, wohin Sie, hochverehrter Meister, heuer die Ferienbrise treiben wird? Damit wenigstens unsere Gedanken Sie begleiten können! Am 7. August landen wir in Wien, um zu übersiedeln, und dann wieder jedes, nach mancherlei Erlebnissen, an seinen Schreibtisch zua wandern. Im September kriegen Sie dann endlich das langversprochene Bild und Etwas, von dem ich hoffe, dass es Ihnen Freude machen wird! Herr Prof. Müllner grüßt herzlichst. Ich bleibe, in unwandelbarer, warmer Verehrung

Ihre M. E. delle Grazie.

a eingef.: zu

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
30.07.1897
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 14
ID
14